Einleitung: Ein wiederkehrender Motivkomplex
Der autobiografische Kern: Zerkalo / Der Spiegel (1975)
SciFi-Figurationen der enigmatischen Weiblichkeit I: Soljaris (1972)
SciFi-Figurationen der enigmatischen Weiblichkeit II: Stalker (1979)
Verlorene Idyllen zwischen Exil und Apokalypse I: Nostalghia (1983)
Verlorene Idyllen zwischen Exil und Apokalypse II: Offret (1986)
Die Genese des Motivkomplexes in den frühen Filmen I: Ivanovo detstvo ( 1962)
Die Genese des Motivkomplexes in den frühen Filmen II: Andrej Rublev (1966)
Ein urtümliches Holzhaus, ein verwilderter Garten, drumherum Weide. Im Zentrum dieser Dorfidylle eine anmutige junge Frau, die rauchend auf einem hölzernen Weidezaun sitzt und in die Ferne blickt. In dieser Szene, mit der Andrej Tarkovskijs autofiktionaler Spielfilm Zerkalo / Der Spiegel (1975, Sowjetunion) beginnt, verkörpert Margarita Terechova die Mutter des Protagonisten Aleksej. In anderen Episoden spielt dieselbe Schauspielerin Aleksejs Ehefrau Natalija. Dieses irritierende Verwechslungsspiel erweitert Tarkovskij um eine weitere Dimension, indem er die Rolle der Mutter doppelt besetzt: Neben Terechova figuriert auch Tarkovskijs leibliche Mutter, Marija Višnjakova, in der Rolle ihrer fiktionalen Wiedergängerin.1 Dieses Kuriosum gab den Anstoß zu dieser Studie, die sich einem zentralen Motivkomplex des Tarkovskij’schen Filmwerks widmet. Dieser Motivkomplex setzt sich aus (mindestens) fünf Komponenten zusammen:
In jedem der sieben Filme Tarkovskijs erfüllen die weiblichen Hauptfiguren gleichzeitig drei Funktionen: erstens die der – zumindest potentiellen – Ehefrau, zweitens die der Mutter und drittens die Verkörperung des existentiellen Extrems, von dem der jeweilige Film handelt, d.h. des Fremden, Anderen, rational Ungreifbaren, Transzendenten. In Ivanovo detstvo / Ivans Kindheit (1962, Sowjetunion) etwa ist es der Krieg, in Stalker (1979, Sowjetunion) die enigmatische Zone, in Nostalghia (1983, Italien, Sowjetunion) das Exil. In jedem der insgesamt sieben Filme werden diese Funktionen zunächst auf zwei weibliche Figuren verteilt, die durch semantische, symbolische, strukturelle oder auch intertextuelle Bezüge zu einer Figur zusammenfließen. Die Intensität dieser Zusammenführung nimmt im Verlauf der künstlerischen Evolution Tarkovskijs immer mehr zu.
Diese gleichsam dreieinigen Figuren werden auf unterschiedliche Weise mit der Muttergottes assoziiert.
Assoziiert werden sie auch mit Bildern, die unmittelbar oder durch ihre interikonische Beziehung zu anderen Bildern die Muttergottes repräsentieren.
An diesen Frauengestalten kristallisieren sich konstitutive Dichotomien von Tarkovskijs Œuvre, so die Gegenüberstellungen von heimischer Häuslichkeit und Fremde, von Immanenz und Transzendenz, von heiliger Mutterschaft und diabolischer Dissonanz sowie von Vergangenheit und Gegenwart. Im letzteren Fall figurieren die Frauen als Vermittlerinnen zwischen den zwei Zeitebenen: Weil sie die Erinnerungen und die Innenwelt der männlichen Protagonisten dominieren, tragen sie die Vergangenheit in die durch sie hervorgebrachte Gegenwart hinein.
Außerfilmisch werden diese Frauenfiguren zusätzlich mit realen Frauen aus Tarkovskijs Umfeld assoziiert, d.h. seiner Mutter, Marija Višnjakova, und seinen beiden Ehefrauen, Irma Rauš und Larisa Tarkovskaja, und dergestalt mit einem autobiografischen Index versehen. Damit versinnbildlichen sie eine weitere Gegenüberstellung, nämlich diejenige von Wirklichkeit und Fiktion, zwischen denen sie vermitteln. Diese biografische Spur wird dadurch gestützt, dass sich alle männlichen Protagonisten Tarkovskijs, angefangen mit seinem Diplomfilm Katok i skripka / Straßenwalze und Geige (1960, Sowjetunion), ohne große hermeneutische Mühe als fiktionale Stellvertreter seiner selbst auslegen lassen.
Die zentrale These dieser Untersuchung lässt sich so zusammenfassen: Tarkovskijs weibliche Hauptfiguren sind gleichzeitig (1) Ehefrau, verklärte Mutter und Allegorie des zentralen Filmthemas. Dem Paradigma der ‚imaginierten Weiblichkeit‘ (Bovenschen 1979) folgend haben sie einen Bezug zum (2) Idealbild der Muttergottes und (3) ihren visuellen Repräsentationen. In diesen fiktionalen Frauengestalten, die (5) auf das Lebensumfeld Tarkovskijs verweisen, kristallisieren sich (4) die zentralen Gegenüberstellungen seiner Filme. Weil in diesem Motivgefüge gleichsam alle Bedeutungsfäden der Filme zusammenlaufen und sich darin verdichten, eignet es sich als ein mögliches Prisma zur Erschließung von Tarkovskijs Werk.
Dem Nachweis dieser These gilt es noch einige Anmerkungen vorauszuschicken. Die einzelnen Elemente ließen sich selbstredend feingliedriger auffächern oder umgekehrt zu gröberen Einheiten verknappen. Diese Aufteilung in fünf Punkte erwies sich für die Analyse als tragfähig und sinnvoll. Es versteht sich dementsprechend von selbst, dass der Motivkomplex nicht als fünfeckiger Stempel misszuverstehen ist, den Tarkovskij jedem seiner sieben Filme aufdrückte. Die fünf Elemente finden sich nicht in jedem einzelnen Film in expliziter Weise, jedoch häufig genug, um eine Konstanz des Komplexes zu behaupten. Beispielsweise lässt sich der weiblichen Hauptfigur in Stalker kein konkretes Bild, weder ein Gemälde noch eine Fotografie, als Spiegelungsfläche zuordnen. Diese Lücke wird aber durch die interikonischen Bezüge zu den anderen Filmen Tarkovskijs geschlossen, die in einem dichten Verweiszusammenhang stehen, sich gegenseitig kommentieren und eben auch komplementieren. Abweichungen und komplexere Fälle dieser Art werden uns immer wieder begegnen. Diese Variationen und Permutationen schwächen die Auslegungen aber keineswegs, sondern bereichern sie.
Das erste und umfangreichste Ziel wird also sein, die Elemente in jedem Film zu isolieren und zu zeigen, auf welche Weise sie miteinander verwoben werden. Die Vernetzung der einzelnen Elemente verläuft gleichermaßen auf den Ebenen der Semantik, der Struktur – so etwa durch narrative und kompositorische Äquivalenzen –, sowie auf der Ebene der Intertextualität bzw. Interikonizität. Die Ebene der Produktionsgeschichte werde ich zwar punktuell berühren, die systematische Erschließung in Bezug auf den Motivkomplex verbleibt hingegen ein Desiderat. Gleiches gilt auch für die Bezüge zu den anderen künstlerischen Tätigkeitsfeldern Tarkovskijs, also für sein fotografisches Werk, seine Theaterinszenierungen oder Drehbücher für andere Regisseure – ich fokussiere mich auf Tarkovskij als Spielfilmregisseur. Auch die musikalische Ebene, die für Tarkovskij maßgeblich ist und die Filme noch enger vernetzt, streife ich nur an einer Stelle, verweise aber auf Tobias Pontaras hervorragende Studie (2020).
Weitestgehend ausgespart bleiben (auto)biografische Selbstaussagen: Dieser Verzicht erklärt sich nicht nur durch die allgemeine Gefahr des Biografismus und des intentionalistischen Fehlschlusses, der bei diesem Thema auf das Glatteis psychoanalytischer Auslegungen führen würde, sondern auch durch eine Eigenheit der Tarkovskij-Forschung:2 Wie Robert Bird (2003) überzeugend ausführt gibt es sowohl in der russischen als auch in der westlichen Forschung die Tendenz, Tarkovskijs Filme auf Allegorien seiner theoretischen, ideologischen und religionsphilosophischen Positionen zu reduzieren bzw. eines Stereotyps davon. Nicht selten, so auch meine Lektüreerfahrung, nähern sich die Interpreten ehrfürchtig den Filmen an, die nicht in erster Linie als Kunstwerke oder nüchterner: mediale Untersuchungsgegenstände betrachtet werden, sondern als Philosophie oder gar eine Art Offenbarung in Bildern – falsche Fährten, die Tarkovskij durch seinen pastoralen Habitus in seinen theoretischen Texten und Interviews legt (s. dazu auch Johnson/Petrie 1994: xiii–xv). Emblematisch für die generelle Problematik des Biografismus im speziellen Falle Tarkovskijs steht eine Bemerkung Hans-Joachim Schlegels in einem Essay, der der deutschen Übersetzung der frühen Drehbuchversion und der Arbeitstagebücher Tarkovskijs zu Zerkalo nachgestellt ist. Schlegel (1993: 321) schreibt, dass mithilfe dieser Materialien „wildwuchernden Mutmaßungen, Mißverständnissen und Spekulationen zu diesem nach wie vor intensiv rezipierten Film mit auch zeitlich konkreten Selbstaussagen [Tarkovskijs] begegnet werden“ könne. Anders gesagt: Das (vermeintlich) letzte Wort des Autors erlöst den von Mehrdeutigkeit geplagten Hermeneuten, der im weiteren Verlauf des Essays kritiklos die Aussagen des Regisseurs übernimmt und endlich Aufschluss über die „tatsächliche […] Funktion literarischer, musikalischer und bildlicher Zitate“ erhält. Es darf bezweifelt werden, ob das tatsächlich der Fall ist, ja, ob das überhaupt ein erstrebenswertes Ziel ist. Die Vorstellung, der Regisseur würde als Hohepriester seines eigenen Werks zu seinem Publikum sprechen führt dazu, so auch Robert Bird, dass Ambiguitäten aufgelöst, Diskontinuitäten geglättet und die mediale sowie formale Dimension der vermeintlich kohärenten Allegorie untergeordnet werden. Im Einklang damit schließe ich beinahe alle Selbstaussagen und Selbstdeutungen Tarkovskijs wie auch einen Großteil der (auto-)biografischen Details aus, bis auf solche, die sich auf objektiv gesicherte Fakten stützen.
Ein Wort zum Forschungsstand: Selbstverständlich finden sich in Analysen zu einzelnen Filmen Verweise darauf, dass Tarkovskijs Frauenideal in der (Gottes-)Mutterschaft liegt, Frauen mit Häuslichkeit assoziiert werden oder sich einzelne Protagonisten in Gemälden spiegeln. In einigen Analysen zu Zerkalo finden sich naturgemäß auch knappe Überlegungen zur Gleichsetzung von Ehefrau und Mutter. In den meisten Fällen geht diesen Beobachtungen kein großer Deutungsaufwand voraus, weil sie leicht greifbar auf der Filmoberfläche liegen. In meinen Ausführungen werde ich einige dieser Verbindungen und Assoziationen rekonstruieren und wiederhole damit das, was schon andere vor mir beschrieben haben. Dazu will ich zweierlei anmerken. Erstens: Da man im Falle von Tarkovskijs Filmen für jede Einzelbeobachtung zehn Belege findet, habe ich mich dafür entschieden, Literaturverweise nur für jene Phänomene anzuführen, die sich mir beim mehrfachen aufmerksamen Schauen der Filme nicht von selbst erschlossen haben. Zweitens: Die Wiederholung von Einzelbeobachtungen ist keineswegs redundant, insofern sie Bausteine einer Argumentation bilden, die auf einen Motivkomplex zielt, d.h. den Bezug der von mir isolierten fünf Elemente aufeinander in ihrem Wandel innerhalb von Tarkovskijs Filmwerk.
Zwei Studien will ich eingangs herausheben: Meine Beschäftigung mit Tarkovkskij hat Robert Birds wegweisende Monografie (2008) zur Grundlage, die im Gegensatz zu den zahlreichen vorhergehenden Studien primär filmimmanent argumentiert, sich auf die Form fokussiert und die Ambivalenzen als Interpretationsangebote belässt. Diesen Ansatz kombiniere ich mit einem Vorgehen, das im Geiste der oft zitierten eher thematisch und biografisch vorgehenden Studie von Vida Johnson und Graham Petrie (1994) steht, die (nicht nur) den amerikanischen Zuschauer:innen erstmals erklärte, was überhaupt auf der Leinwand zu sehen ist. Der dritte Teil dieser Untersuchung ist eine Zusammenstellung wiederkehrender Motive, Referenzen und Konstellationen in Tarkovskijs Filmen, die Johnson und Petrie (1994: xvi) in Anschluss an David Russell als Episoden eines großen Films betrachten, die sich gegenseitig spiegeln und reflektieren. Allerdings werden diese vielfältigen Wiederholungen von den beiden nicht zu Komplexen gebündelt, sodass mitunter der Eindruck der Aufzählung entsteht.
Den Aufbau meiner Argumentation will ich ausgehend von der Darstellung von Tarkovskijs filmischem Œuvre skizzieren: Tarkovskij vollendete insgesamt sieben Spielfilme, eine Heptalogie, die sich grob in drei Phasen aufteilen lässt: In den 1960ern drehte er zwei Filme in Schwarzweiß mit historischem Fokus: Ivanovo detstvo, der im Zweiten Weltkrieg spielt, sowie einen Film über den Ikonenmaler Andrej Rublev (1966, Sowjetunion),3 der im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts situiert ist. In den 1970ern widmete er sich mit zwei SciFi-Verfilmungen, Soljaris (1972, Sowjetunion) und Stalker (1979), der fernen Zukunft, und beschäftigte sich im schon genannten autofiktionalen Zerkalo (1975) mit seiner eigenen Biografie. Die Filme der 1980er, Nostalghia (1983) und Offret / Das Opfer (1986, Schweden, UK, Frankreich) entstanden außerhalb der Sowjetunion, in Italien und Schweden, und sind durch ihre Themen Exil und Apokalypse von einer endzeitlichen Stimmung gekennzeichnet. Für meine Argumentation weiche ich von der Entstehungschronologie ab und setze zunächst meine Ausführungen zu Zerkalo fort, weil der Motivzusammenhang hier in Reinform sinnfällig wird. Anschließend widme ich mich der vorausgehenden SciFi-Verfilmung Soljaris. Diese Vorgehensweise erklärt sich daraus, dass viele dunkle Episoden von Soljaris – es sind jene, die von Stanisław Lems Romanvorlage abweichen – erst im Rückspiegel von Zerkalo erhellt werden. Das hängt damit zusammen, dass beide Filme etwa zeitgleich entstanden, durch ein dichtes Verweisnetz verbunden sind und sich gegenseitig kommentieren. Nach der Explikation des Motivkomplexes aus dieser Filmdyade fahre ich mit Stalker fort, der auf Zerkalo folgte und schon allein durch das SciFi-Genre eng mit Soljaris verbunden ist. Von hier aus folge ich der Entstehungschronologie, behandele also die beiden letzten, ‚europäischen‘ Filme, Nostalghia und Offret, bevor ich mich mit Ivanovo detstvo und Andrej Rublev den filmischen Anfängen und also den Anfängen des Motivkomplexes widme, die erst vor dem Hintergrund der späteren Filme deutlich zutage treten. Die Untersuchung umfasst somit sieben Abschnitte, die in dieser Reihenfolge den Motivkomplex in jedem Film rekonstruieren und Bezüge zu den vorhergehenden Analysen herstellen. Die Zusammenführung der einzelnen Auslegungsansätze folgt im Schlussteil. Auf diese Weise kann jede Leserin ihre Lektüre ihren eigenen Interessen entsprechend gestalten.
Zerkalo (1975, Der Spiegel) enthält keinen Plot im engeren Sinne. Der Protagonist Aleksej, ein Platzhalter Tarkovskijs,4 blickt wie durch einen Spiegel auf seinen Lebensweg, der sich zwischen den frühesten Kindheitserinnerungen und der Diagnose einer tödlichen Krankheit entfaltet. In der Nachahmung tatsächlicher Erinnerungsarbeit ist diese Rekapitulation achronologisch, assoziativ, traumartig, sprunghaft, gebrochen und oft enigmatisch; sie bedient sich ‚fremder‘ Erinnerungsfragmente, die dem Protagonisten nicht zugänglich sein können, greift aber auch auf dokumentarische Aufnahmen zurück, die das Individuelle mit dem Kollektiven und Globalen verbinden (s. Bird 2008: 136–142). Dominant sind aber die Erinnerungen an Episoden aus dem Leben der Mutter, zu der Aleksej ein schuldbeladenes, kompliziertes Verhältnis hat. In den meisten dieser Episoden spielt Aleksej – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle; einen beträchtlichen Teil kann er gar nicht miterlebt haben. Die Autobiografie des Sohnes wird also gleichsam zu einem Nebenprodukt der Biografie der Mutter: Sie ist die eigentliche Protagonistin von Zerkalo. Anders gesagt: Aleksej spiegelt sich in der Mutter, sie beherrscht und determiniert seine Erinnerungen und damit sein Selbstbild. Der leitmotivische Spiegel dient dabei nicht nur im psychoanalytischen Sinne als Metapher der Selbsterkenntnis. Die zahllosen Spiegel innerhalb der erzählten Welt fungieren auch als portalartige (auch narrative) Bindeglieder zwischen den Orten und Zeiten, von denen die verstreuten Episoden handeln. Weil der Spiegel mimetische Abbildung vortäuscht, tatsächlich aber nur einen spiegelverkehrten, verfremdeten Ausschnitt der Welt zeigt, ist er nicht zuletzt auch eine selbstreferenzielle Metapher des Mediums Film, die Tarkovskij seit seinem Diplomprojekt Katok i skripka systematisch nutzte. Im weiteren Sinne metaphorisiert das Spiegelbild Bildmedien per se, die in unterschiedlicher Gestalt, so etwa als Fotografien, Gemälde und Fernsehbilder die Mises en Scène des Films prägen.
Sinnfällig wird die Spiegelmetapher als Leitmotiv und Kompositionsprinzip des Films in der Besetzung der Rollen. Margarita Terechova verkörpert in Tarkovskijs filmischer Autofiktion gleich zwei Rollen: In der dargestellten Gegenwart spielt sie Natalija, die Ex-Ehefrau Aleksejs; in der erinnerten Vergangenheit stellt sie Aleksejs Mutter Marija dar. In letzterer Rolle tritt sie darüber hinaus in ein Spiegelungsverhältnis zu einer anderen Frauenfigur, die von Tarkovskijs zweiter Ehefrau, Larisa Tarkovskaja, gespielt wird. Diese Identifizierung von Mutter und Ehefrau – auch zur Letzteren steht Aleksej in einem schwierigen Verhältnis – ist nicht nur den Zuschauenden evident, sondern auch der innerfiktionalen Welt. Aleksejs Ehefrau Natalija weist beim Betrachten alter Fotografien darauf hin, dass sie Aleksejs Mutter ähnlichsehe; Aleksej seinerseits merkt in diesem Zusammenhang an, dass seine Mutter ihm in Erinnerungen stets in Gestalt Natalijas erscheine. In gleicher Weise werden die jüngere Version von Aleksej in der Vergangenheit und dessen Sohn Ignat in der Gegenwart vom selben Schauspieler, Ignat Danil’cev, verkörpert.
Der traumartigen Logik von Zerkalo liegt ein zyklisches, mythisches Geschichtsbild zugrunde, in dem sich die Vergangenheit in der Gegenwart wiederholt: Der Sohn ist eine Iteration des Vaters, die Ehefrau die Wiedergängerin der Mutter. Die Zeitebenen verwischen im Verlaufe des Films bis zur Ununterscheidbarkeit, was sich visuell in der inkonsistenten Semantik der Kamerafilter ausdrückt, die zu Beginn für distinkte Zeiten zu stehen scheinen. Die Auflösung der Grenze zwischen den zwei Frauenfiguren und zugleich derjenigen von Vergangenheit und Gegenwart geht einher mit der Auflösung der Grenze zwischen filmischer und außerfiktionaler Wirklichkeit: Tarkovskijs wirkliche Mutter, Marija Višnjakova, zum Zeitpunkt des Drehs über 65 Jahre alt, spielt in der Gegenwart sich selbst.5 Als am Ende des Films die Zeitebenen endgültig zusammenfallen, übernimmt sie auch die bis dahin von Margarita Terechova verkörperte Rolle ihres etwa 30-jährigen Ich.
Auch Tarkovskijs Vater, der sowjetische Dichter Arsenij Tarkovskij, figuriert in dem Film: Gespielt wird seine fiktionalisierte Version zwar von Oleg Jankovskij, seine Gedichte, die in einigen Episoden im Voiceover als lyrischer Kommentar und Kontrapunkt eingespielt werden, rezitiert er indessen selbst.6 Mit diesen expliziten Markierungen der Autofiktionalität ist der Film auch Tarkovskijs Liebeserklärung an seine Eltern, wobei der Vater primär in seinem künstlerisch-schöpferischen Anteil verewigt wird, die Mutter aber in ihrem körperlichen Agieren.7
In Zerkalo verschmelzen das Vergangene und das Gegenwärtige, Traum und Wirklichkeit, das Fiktionale und das Reale in gegenseitiger Bespiegelung, in der sich jeder Anspruch auf (auto-)biografische Wahrheit, Eindeutigkeit und Authentizität auflöst. Das Anliegen des Films ist denn auch nicht die Dokumentation eines vergangenen Lebens, sondern dessen gegenwärtige Reflexion im Angesicht des Todes, der über dem schwerkranken Aleksej schwebt. Anders gesagt: Die Gegenwart offenbart sich im Spiegel des Todes als eine Variation der Vergangenheit. Das ist die zentrale existentielle Extremsituation von Zerkalo, die in der ‚synthetischen‘ Protagonistin, dem Konglomerat aus Müttern und Ehefrauen verkörpert wird. Althergebrachten misogynen Mustern folgend verbindet der Film Weiblichkeit mit den Grenzen des Lebens. Einerseits steht die Mutter-Ehefrau für die unveräußerlichen Reste menschlicher Kreatürlichkeit, das heißt Sexualität und Geburt, die das Leben ermöglichen, andererseits für das Unbegreifbare, das am Ende des irdischen Lebens steht, den Tod.
Tarkovskijs filmisches Bekenntnis (ispoved’), einer der Arbeitstitel des Projekts (Bird 2008: 125), zeigt den hier untersuchten Motivkomplex in expliziter Form. Zerkalo verbindet die realen mit den fiktionalisierten Versionen der Ehefrau und Mutter zu einer einzigen Gestalt, die den Tod als existentielle Herausforderung versinnbildlicht und an der sich die Dichotomien von Heimat und Entfremdung, von Dies- und Jenseits und von Vergangenheit und Gegenwart kristallisieren. Einzig der zweite Punkt, der Bezug zum Marienbildnis, wurde bisher nicht ausgeführt: Der Film stellt zwar eine deutliche Verbindung zwischen der Schauspielerin Margarita Terechova und Leonardos Bildnis der Ginevra de' Benci (um 1475) her (vgl. Fig. 5), jedoch ist es ein Werk der Profanmalerei, dessen Funktion im Zusammenhang mit Soljaris ausführlicher auszuleuchten sein wird. Der Bezug zur Jungfrau Maria fehlt indessen. Innerfilmisch betrachtet wird er in Zerkalo lediglich durch den Namen der Mutter, Marija, angedeutet. Diese Andeutung wird aber durch auto-intertextuelle Bezüge innerhalb von Tarkovskijs Gesamtwerk konkretisiert, vor allem durch die letzten zwei Filme der Heptalogie, Nostalghia und Offret. In beiden Filmen heißen die weiblichen Figuren nicht nur Maria, sondern werden explizit mit Renaissancedarstellungen der Gottesmutter verquickt. Im Falle von Nostalghia ist es Piero della Francescas Fresko Madonna del Parto (um 1460, Madonna der Geburt), im Falle von Offret ist dieses Gemälde Leonardo da Vincis Adorazione dei Magi (1481), die Anbetung der Könige also, die neben Maria mit dem Christuskind knien. Nicht nur die Namensverwandtschaft bringt die Marien von Zerkalo und Offret zusammen, sondern auch der interikonische Dialog zwischen den Leonardo-Gemälden, der bereits in Zerkalo präfiguriert wird: Der Kunstband mit dem Bildnis der Ginevra, in dem sowohl Aleksej als auch sein Sohn Ignat blättern, enthält Leonardos Anbetung der Könige.
Im autobiografischen Spiegel zeigt sich die Verbindung von Ehefrau, Mutter und existentieller Extremsituation in Reinform. Soljaris, die Verfilmung von Stanisław Lems gleichnamigem SciFi-Klassiker (1961), erschien 1972, also drei Jahre vor Zerkalo, und scheint oberflächlich betrachtet recht wenig mit der poetisierten Filmautobiografie gemein zu haben.8 Tatsächlich aber stehen die zwei Filme gerade in Hinblick auf die Motivverbindung im allerengsten Zusammenhang. Das ist nicht zuletzt auf ihre simultane Genese zurückzuführen: Mit der Ausarbeitung der früheren Varianten von Zerkalo begann Tarkovskij bereits während der langwierigen, konfliktreichen und zermürbenden Veröffentlichung von Andrej Rublev (s. dazu Schwarz 2015). Wohl aus Sorge vor einem weiteren Kampf mit der sowjetischen Zensur ließ Tarkovskij das Vorhaben aber ruhen und wandte sich zunächst Lems ideologisch relativ unverfänglichem SciFi-Roman zu, den er – mit dem autofiktionalen Projekt im Hinterkopf – für die Leinwand übersetzte. Dadurch erklärt sich, dass gerade die augenfälligen Abweichungen von Lems Romanvorlage, welche die hermeneutisch unzugänglichsten Episoden von Soljaris bilden, durch Zerkalo greifbarer werden – der spätere Film spiegelt buchstäblich den früheren und erhellt seine dunkelsten Passagen. Zunächst aber wollen wir uns denjenigen Elementen widmen, die der Film aus dem Text aufnimmt, und erst ausgehend davon auf diese für uns wesentlichen Abweichungen zu sprechen kommen.
Der Planet Solaris ist in einen Nebelozean gehüllt, der über eine Art von Bewusstsein zu verfügen scheint. Die Menschheit widmet dem rätselhaften Nebel eine ganze Disziplin, die Solaristik, die alle wissenschaftlichen Diskurse von der Physik über die Psychologie bis hin zur Philosophie in sich vereint, um dieses merkwürdige außerirdische Leben zu durchleuchten. Ihre Mühen sind jedoch fruchtlos: In ihren Versuchen, den metaphorischen Nebel zu vertreiben, um des Solaris Kern zu schauen, werden die Wissenschaftler auf sich selbst zurückgeworfen und stehen da „so klug als wie zuvor“ (Goethe 2005: 13). Sowohl bei Tarkovskij als auch bei Lem ist Solaris auch ein Lehrstück über die engen Grenzen der menschlichen Erkenntnis, die immer nach den äußersten und letzten Dingen, dem Unbegreiflichen und Ungreifbaren greift, um sich alsbald im Spiegelkabinett eigener Modelle und (Ab-)Bilder wiederzufinden.9 In einem weiteren Sinne ist die Solaristik damit auch eine Allegorie der unerfüllbaren menschlichen Sehnsucht nach einer das Menschliche überschreitenden Transzendenz.
Der Solaris-Ozean interagiert mit den Menschen auf eine recht eigentümliche Weise, indem er das in die Untiefen ihres Unterbewusstseins Verdrängte, d.h. traumatische und schuldhafte Erinnerungen, vor ihren Augen (wieder) Wirklichkeit werden lässt. So ergeht es auch dem Psychologen Kris Kelvin, der auf die Raumstation reist, die der Erforschung des Planeten gewidmet ist: Als er nach der ersten Nacht in seiner Kajüte erwacht, steht seine Frau Harey vor ihm, die sich schon vor vielen Jahren das Leben genommen hat.10 Zunächst verstört, lässt sich Kris Kelvin bald auf die Illusion ein, die für ihn immer mehr zur Wirklichkeit wird. Ab diesem Moment wird Sol(j)aris zu einem melodramatischen Kammerspiel mit epistemologischer Grundlage.
Kris’ klaustrophobische Kajüte, in der er mit Harey gleichsam die zweiten Flitterwochen verbringt, lässt sich begreifen als ein Miniaturabbild des Verhältnisses von Erde und Solaris: Der wissenschaftliche Diskurs arbeitet sich am fremden Planeten in gleicher Weise ab, wie Kris an der Wiedergängerin seiner toten Ehefrau. Kris Kelvin steht also pars pro toto für die erkenntnis- und transzendenzbedürftige Menschheit. Die von Solaris erzeugte Frau, das sekundäre, ‚andere Geschlecht‘ repräsentiert die radikale Andersheit des nebulösen Planeten, die der forschende Mann zu durchleuchten sucht. In der gleichen Weise wie die Mutter in Zerkalo Leben und Tod verkörpert, personifiziert die künstlich erzeugte Frau Harey das existentielle Extrem des Films: Als Personifikation der geheimnisvollen Nebelmasse ist sie eine Projektionsfläche für die Ängste vor und Sehnsüchte nach dem radikal Anderen, Unbekannten, Numinosen und Transzendenten. Die Pointe liegt selbstredend darin, dass der Solarisnebel in Harey lediglich das abbildet, was er in Kris’ Unterbewusstsein vorfindet. Während der Psychologe das Mysterium des fremden Planeten zu erforschen glaubt, ergründet er in Wirklichkeit sein Allerinnerstes, das Unheimliche seiner Psyche, das in Harey als seiner Galathea anschaulich wird. Kris’ kosmischer Erkenntnisdrang wird auf die Enge seines Bewusstseins verwiesen.11 Als absolute Fremdheit konfrontiert Solaris die Menschen mit ihrem Allerinnersten, das ihnen selbst als Verdrängtes verborgen ist.
In diesem Grundriss sind die Handlungen bei Lem und Tarkovskij identisch, der Unterschied liegt im Fokus. Bei Lem steht die Science-Fiction im Vordergrund, nämlich Weltraum, Naturwissenschaft, Technik und Epistemologie. Das Leben auf der Erde hat in Lems Roman, der unmittelbar mit Kris’ Fahrt zur Raumstation beginnt, keinerlei Bedeutung. Seine Version von Solaris besteht genau genommen aus der Alternation zweier lose verbundener Teile, einem narrativen und einen deskriptiven:12 Der narrative Teil des Romans, der die Handlung vorantreibt, erzählt die Interaktionen zwischen Kris, Harey und den beiden anderen Besatzungsmitgliedern, Snaut und Sartorius. Der deskriptive Teil beschreibt, vermittelt über Kris Kelvins erschöpfende Lektüren, verschiedene Facetten der Solaristik, d.h. die einzelnen Disziplinen, Positionen und Kontroversen in ihrer historischen Entwicklung. Der interdisziplinäre Diskurs um den mysteriösen Planeten in allen seinen Verästelungen und Wucherungen ist das Primat von Lems Vision, die die Vergeblichkeit dieses Aufwands im Blick hat: Die Wissenschaft, die den Nebelschleier von Solaris lüften will, bleibt in ihren diskursiven Dynamiken von Rede und Gegenrede, d.h. in der Sprache gefangen und ist seit dem ersten Kontakt kaum vorangeschritten. Dieser wissenschaftspessimistische Befund wird in Kris personifiziert, der sich, so bemerkt Alexander Römpp (2012: 47–48), anstatt am Planeten zu forschen, sich vornehmlich in der Bibliothek der Raumstation aufhält. Die Solaristik verdeckt kurz gesagt die Solaris: Die aufeinander verweisenden Bücher und Texte, so Römpp (2012: 48–52, hier: 49) weiter, erschaffen „[i]n ihrer Tautologie und Selbstbespiegelung“ einen selbstreferenziellen Sprachozean als „sakralen Selbstzweck“, der den Nebelozean einerseits als Diskursgegenstand hervorbringt, ihn aber zugleich verschleiert.
Tarkovskij stuft den im Roman so dominanten wissenschaftlichen Diskurs um Solaris zum Setting seiner eigenen Vision herab, die sich nahtlos in die Ästhetik und Logik seines Gesamtwerks einfügt, das sich der Selbsterkenntnis im Spiegel der unerreichbaren Transzendenz widmet. Seine Adaption eliminiert beinahe den gesamten deskriptiven Anteil, die Science-Fiction-Elemente bilden bloß eine Kulisse, weshalb es nicht verwundert, dass Lem mit dem Ergebnis unzufrieden war (vgl. Skakov 2012: 79–80). Die SciFi-Anteile, immerhin etwa ein Drittel des Romans, ersetzt Tarkovskij durch vier Episoden, die auf der Erde spielen. Diese vier Episoden umspannen – in achronologischer Reihenfolge – Kris’ Lebensweg von der Kindheit bis zur Reise auf die Solaris.13 Tarkovskij fügt zunächst einen linear erzählten Prolog hinzu, der unmittelbar an die Raumfahrt anschließt, mit der Lems Roman anfängt. Bei den weiteren von Tarkovskij ‚ergänzten‘ Szenen mit Bezug zur Erde handelt es sich um enigmatische Analepsen, die ausgehend von der Handlung auf der Raumstation in die Zeit vor dem Prolog ausgreifen. Diese von Tarkovskij ‚hinzugefügte‘ irdische Vergangenheit des Protagonisten ist für unseren Zusammenhang von eminenter Bedeutung: Genau diese Episoden nämlich führen den letzten wesentlichen Baustein des untersuchten Motivkomplexes ein, der in Lems Romanvorlage gänzlich fehlt: die Figur der Mutter.
Allein der von Tarkovskij hinzugefügte Prolog, der am Tag vor Kris’ Weltraumfahrt spielt, nimmt mit gut 40 Minuten etwa ein Viertel des Films ein. Gezeigt wird eine Naturidylle, die in vielerlei Hinsicht derjenigen in Zerkalo ähnelt: Ein russisches Häuschen inmitten einer sattgrünen Landschaft in einem Tal, ein etwas verwilderter Garten mit Teich, ein herumtollender Hund und das in Tarkovskijs Werk leitmotivische Pferd; einzig die Betonpfeiler einer Brücke stören die Harmonie.14 Am Ende des Prologs verbrennt Kris fast alle seine Habseligkeiten, die sein irdisches Leben dokumentieren, und nimmt Abschied von der ‚russischen‘ Erde, von dem Familienhaus und von seinem gealterten Vater, der nach Kris’ Rückkehr wohl nicht mehr leben wird. Steht bei Lem die transnationale, universelle SciFi im Vordergrund, also gerade der von der Erde losgelöste Mensch, so ist es bei Tarkovskij, wie bereits der Prolog zeigt, die Reflexion auf das irdische Dasein des Menschen. Der Weltraum ist dabei nichts weiter als eine Metapher der Transzendenz. Einen beträchtlichen Teil des Lem’schen Solaristik-Diskurses verdichtet der Prolog auf ein kurzes Video, einen Film im Film, der lediglich für das Worldbuilding wesentlich ist. Die darin gezeigten Aufnahmen des Nebelozeans um Solaris lassen sich jedoch kaum von denjenigen der Nebelschwaden auf der Wasseroberfläche des heimischen Teichs unterscheiden. In Entsprechung damit dominieren nicht futuristische Technologien die Mise en Scène, sondern Artefakte von Kunst und Kultur zieren sowohl das russische Haus als auch die Bibliothek der Raumstation, die, so Nariman Skakov (2012: 88), als Museen der für Tarkovskij wesentlichen kulturellen Errungenschaften Europas erscheinen (darunter die Totenmaske Puškins, eine Prachtausgabe des Don Quijote, Bruegels Jahreszeitenzyklus und die Venus von Milo).
Wie in Zerkalo ist die im Prolog von Soljaris gezeigte Idylle eine gebrochene: Während in Zerkalo Aleksejs Vater abwesend ist, ist es in Soljaris Kris’ Mutter, eine Gestalt, die bei Lem nicht vorkommt.15 Während aber in Zerkalo die Abwesenheit des Vaters zu Filmbeginn explizit angesprochen wird, erschließt sich diejenige der Mutter in Soljaris erst nach und nach. Ihre Einführung in die erzählte Welt ist lediglich eine rätselhafte Andeutung: Im Prolog sieht man aus Kris’ Perspektive etwa fünfzehn Sekunden lang, unvermittelt und wie nebenbei, ein fotografisches Porträt; dass es seine Mutter zeigt, wird erst im weiteren Verlauf des Films deutlich (Fig. 1). In den späteren von Tarkovskij ‚hinzugefügten‘ irdischen Episoden wächst die Bedeutsamkeit der Figur exponentiell: Je mehr sich Kris von der Wirklichkeit entfernt, desto mehr verschmelzen seine Erinnerungen an die Mutter mit denjenigen an die Ehefrau Harey.
Bei der zweiten Episode mit Bezug zur Erde handelt es sich um einen Zusammenschnitt von Sequenzen aus Familienvideos der Kelvins, die Kris Harey zeigt, um ihr die entsprechenden Erinnerungen einzupflanzen. Diese Videos führen eine Zeitebene ein, in der Kris’ Mutter und Harey beide noch leben und die häusliche Idylle aus dem Prolog noch intakt ist. Bemerkenswert an dieser Kompilation ist zunächst zweierlei: Erstens springen die Mikroepisoden, die jeweils nur wenige Sekunden dauern, zwischen verschiedenen (Jahres-)Zeiten. Sie folgen also nicht einer chronologischen, sondern einer assoziativ-poetischen Ordnung, die die Kompositionsweise von Zerkalo gleichsam in nuce enthält und vorwegnimmt. Zweitens wirken die Mikroepisoden statisch und porträthaft, ähneln also eher Fotografien, denn Videoaufnahmen.16
Gleich die zweite Mikroepisode zeigt die Mutter, deren Kopfneigung und Gesichtsausdruck beinahe exakt demjenigen Foto nachempfunden sind, das wir von ihr im Prolog sehen (Fig. 1). Diese Verlebendigung der Fotografie durch den Film ist die erste Parallele, die Soljaris zwischen Kris’ Mutter und seiner Ehefrau Harey zieht, denn auch Letztere wird als eine Art Tableau vivant in den Film eingeführt: Als Kris nach seiner ersten Nacht auf der Raumstation aufwacht, sitzt Harey in derselben Kleidung und Pose vor ihm wie auf ihrem Fotoporträt, das Kris von der Erde mitgebracht hat (Fig. 2). In beiden Fällen verbinden Kleidung, Gesichtsausdruck und Pose nicht nur jeweils Urbild und Abbild, d.h. Frau und Fotografie, miteinander, sondern auch die beiden Frauen, d.h. die Mutter und Harey, sowie ihre Fotoporträts. Diese Kongruenz wird im weiteren Verlauf der Familienvideosequenz noch vertieft. Auf die statischen Aufnahmen der Mutter folgen einige von Harey, die diejenigen der Mutter komplementär spiegeln: Die blonde, blasse Mutter steht in heller Kleidung inmitten einer frühlingshaften üppigen Natur, während die brünette Harey in ihrer dunklen Kleidung in einer kargen winterlichen Atmosphäre in identischer Pose vor dem Haus der Familie platziert wird (Fig. 3).17
Endgültig evident wird die Vorstellung von der Ehefrau als Abbild und Wiederholung der Mutter (und umgekehrt) in der dritten auf die Erde bezogenen Episode, um die Tarkovskijs Verfilmung Lems Roman erweitert. Die zwei ohnehin eng miteinander assoziierten Frauen verschmelzen hier zu einer Gestalt: Gegen Ende von Soljaris verfällt Kris nach Hareys abermaligem Suizidversuch in eine Art Fieberwahn. In den Fieberträumen, die aus Kris’ Perspektive dargestellt werden, fallen Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Virtualität ineins. Die Farbfilter, die zuvor die einzelnen Wirklichkeitsebenen markierten, verlieren hier endgültig ihre Bedeutung – ein Verfahren, das später auch in Zerkalo zum Tragen kommt.18 In dieser Sequenz erscheint Harey zeitgleich an mehreren Stellen in der Kajüte. Die Desorientierung erreicht ihren Höhepunkt in dem Moment, in dem eine der vielen Hareys sich in Referenz auf eine frühere Szene zu entkleiden beginnt und nach einem Kameraschwenk durch die Mutter ersetzt wird, die diese Bewegung fortführt und schließlich im Negligé vor ihrem Sohn steht. Die Gleichsetzung von Ehefrau und Mutter in Tarkovskijs Werk erreicht hier ihren ödipalen Zenit. Schließlich gerät das Raum-Zeit-Kontinuum völlig aus den Fugen: Träume, Erinnerungen, Visionen, filmische und fotografische Bilder, Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen, Elemente des irdischen Zuhauses vermischen sich in Kris’ Kajüte mit Gegenständen von der Raumstation. In diesem vom Fieber erzeugten Traumraum spielen Mutter und Sohn Szenen aus Kris’ Jugend nach, aus denen deutlich wird, dass das Verhältnis der beiden in gleicher Weise angespannt ist (bzw. war) wie dasjenige von Aleksej und dessen Mutter in Zerkalo. Als Kris nach dem Fiebertraum erwacht, ist Harey endgültig verschwunden – der Wissenschaftler Sartorius hat sie auf ihren eigenen Wunsch hin eliminiert. Während Harey (als Abbild und Wiedergängerin) in den Familienvideos die Mutter ersetzt, ereignet sich in Kris’ Fieberwahn der umgekehrte Prozess: Das den Bildmedien entstiegene Abbild der Mutter löscht das Abbild der Ehefrau.
Kris’ Mutter und seine Ehefrau Harey sind Spielarten ein und derselben Figur: Sie treten in keiner Szene gemeinsam auf, die eine löst stets die andere ab. Folgerichtig wiederholt sich Kris’ Verlust der einen im Verlust der anderen und vice versa. Der Planet Solaris als existentielles Extrem, das Harey versinnbildlicht, erweist sich bei Tarkovskij als eine Kopie der in der Mutter personifizierten Erde. Geht man über die Grenzen des Einzelfilms hinaus, so lässt sich feststellen, dass das Mutter-Ehefrau-Gespann in Soljaris dasjenige von Zerkalo vorwegnimmt bzw. umgekehrt, dass Tarkovskij diese Identifikation im späteren autobiografischen Film vollendet, indem er beide Frauengestalten, die in Soljaris zumindest noch unterscheidbar sind, von ein und derselben Schauspielerin, Margarita Terechova, verkörpern lässt; die Rolle der Mutter besetzt er zudem mit seiner wirklichen Mutter, Marija Višnjakova, doppelt. Die Frauengestalten (bzw. Schauspielerinnen) in den beiden Filmen sind durch buchstäbliche Familienähnlichkeiten miteinander verknüpft: Nicht nur sind die Figurenkonstellationen sehr ähnlich, Tarkovskij lässt die Frauen auch ähnliche Kleidung tragen (Kleid, gestricktes Schultertuch), ähnliche Blicke aufsetzen, ähnliche Posen ein- und ähnliche Gewohnheiten aufnehmen.
Wie weit die Korrespondenzen zwischen Soljaris und Zerkalo reichen, will ich an zwei Beispielen illustrieren, die beide einen Bezug zur Malerei der Renaissance haben: Die Familienvideoaufnahmen, die sich Kris und Harey ansehen, zeigen Kris’ Mutter beim Rauchen, was angesichts der durchstilisierten Bilder und des Entstehungskontextes ein wenig irritiert – offensichtlich ist hier eine eigenwillige Frau zu sehen, die sich nicht nur gegen die Konventionen ihrer Zeit sträubt, sondern sogar gegen das ästhetische Programm des Filmbilds, in dem sie erscheint. Diese Angewohnheit ahmt Harey einige Szenen später nach, indem sie in der Bibliothek der Station rauchend die gemalten Landschaften auf den Reproduktionen von Bruegels Jahreszeiten-Zyklus betrachtet, dessen Gemälde, wie Robert Bird (2008: 161) und Nariman Skakov (2012: 86) anmerken, mit der Farbpalette der Familienvideos korrespondieren.19 Diese Szene antizipiert den Anfang von Zerkalo, wo die Mutter in gleicher Pose sitzend und rauchend auf die grüne Weidelandschaft blickt (Fig. 4).20
Das zweite Beispiel, das die Verbindung zwischen den Müttern und Ehefrauen veranschaulicht, verweist chronologisch betrachtet in die umgekehrte Richtung: In Zerkalo spielt ein Kunstband über Leonardo da Vinci, von dem sowohl Aleksej als auch sein Sohn Ignat fasziniert sind, eine wesentliche Rolle. Besonders akzentuiert wird Leonardos Bildnis der Ginevra de' Benci (um 1475), die auf eine beinahe unheimliche Weise als eine Doppelgängerin der Schauspielerin Margarita Terechova erscheint, die sowohl Aleksejs Mutter als auch Ehefrau Natalija spielt (Fig. 5). Tarkovskij selbst erklärte die Referenz damit, dass das Gemälde erstens das „Geschehen“ um „die Dimension des Ewigen“ ergänze und zweitens den „Kontrapunkt“ zu „Margarita Terechowa“ bilde, „die anziehend und abstoßend zugleich“ sein konnte (Tarkowski 2021: 132). Die Spannung zwischen ‚Ewigkeit und Vergänglichkeit‘ sowie diejenige zwischen Anziehung und Abstoßung zeigt sich in gleicher Weise an den Abbildern der Ehefrau Harey und der Mutter in Soljaris, die sich in der kontrastiven Lektüre als Vor- und Wiedergängerinnen des Mutter-Ehefrau-Gespanns in Zerkalo erweisen. Nicht nur die Posen und Blicke der beiden Frauen auf ihren Fotografien korrespondieren mit Leonardos Gemälde (Figs. 1 und 2). Hareys auffälliges Kleid scheint eine Referenz auf dasjenige der Ginevra de' Benci zu sein (vgl. Figs. 4, 5 und 7) (s. Bird 2008: 126–127). Neben der Ginevra zeigt sich in Zerkalo ein zweites, subtileres Vorbild für Frauen-Fotografien in Soljaris: In zwei kurzen Einstellungen von Zerkalo ist in Aleksejs Wohnung ein Fotoporträt Marija Višnjakovas zu sehen, das sie als junge Frau zeigt (Fig. 6).21 Die Fotografien von Harey und Kris’ Mutter sind also auch Kopien dieser realen Fotografie, deren Archetypus Leonardos Gemälde ist.
Vergleicht man Soljaris und Zerkalo, die etwa zeitgleich entstanden, lässt sich konstatieren, dass Tarkovskij Lems Solaris durch die von ihm hinzugefügten irdischen Episoden nicht nur russifiziert, sondern dadurch vermittelt autobiografisch auflädt: Lems Figur Kris wird im Film zu seinem fiktionalen Stellvertreter und damit zu einer Vorwegnahme von Aleksej aus Zerkalo. Nicht zufällig vergessen beide Söhne das Gesicht der Mutter: Aleksej erinnert seine Mutter in Gestalt seiner Ehefrau Natalija, Kris gesteht seiner Mutter (bzw. ihrer Traumerscheinung) gegenüber ein, er erinnere sich nicht an ihr Gesicht. Aus Hareys Überblendung mit Tarkovskijs eigenwilliger Mutter lassen sich die Unterschiede zu ihrer Buchvariante erklären: Am Anfang des Films ist Harey zwar wie bei Lem noch passiv, gefügig und infantilisiert, jedoch emanzipiert sie sich zusehends von der ihr im Roman zugewiesenen Frauenrolle. Während sie bei Lem ausschließlich mit Kris interagiert, lässt sie sich im Film weder von dem ewig monologisierenden Snaut noch von dem Zyniker Sartorius kleinhalten. In der Bibliotheksszene, in der die Handlung kulminiert (hiernach erleidet Kris seinen Fiebertraum und verliert endgültig seinen Wirklichkeitsbezug), bietet Harey Sartorius, der ihr immer wieder ins Wort fallen will, die Stirn und verweist ihn auf seinen Platz (vgl. Skakov 2012: 90), womit ihr Emanzipationsprozess seinen Höhepunkt erreicht.22
Die unheimliche Fremdheit der vertrauten Frau(en) in Soljaris und in Zerkalo steht allegorisch für die unheimliche Fremdheit der Welt.23 Deren Unergründlichkeit regt die überforderten männlichen Protagonisten zur Produktion und Vervielfältigung von Bildern an, die das Ungreifbare vermeintlich greifbarer machen, es aber faktisch noch weiter auf Distanz rücken. Diese Aporie wird anschaulich in Kris’ Beschäftigung mit Mutter und Ehefrau, die als Imaginations- und Projektionsflächen fungieren, an denen sich die (vermeintlich) ‚großen‘ Fragen kristallisieren: Anstatt einer der beiden und damit den ersehnten Antworten näherzukommen, verliert sich Kris in Iterationen von belebten Bildern und Simulakren, die sich gegenseitig auf vielfältige Weise spiegeln. Diesen infiniten Regress des Medialen inszeniert der Film ungleich effektreicher als die Romanvorlage, wobei er einen deutlichen Fokus auf das Bildliche setzt: Statt Büchern und Tonaufnahmen im Roman sichtet Kris im Film vornehmlich Bilder und Videos. Auch sonst säumen unterschiedliche Bildmedien die Mises en Scène, darunter Gemälde, Standbilder und Fotografien sowie Spiegel und Schatten. Der Mensch erscheint als Bewohner und Gefangener im Reich bildlicher Repräsentationen, die der Film als bildliches Medium und Abbild der Romanvorlage (Bird 2008: 18) mitkonstruiert. Emblematisch kristallisiert sich dieser Gedanke in dem filmischen Bild, in dem Harey als Kris’ Wunschbild mit der eigenen Fotografie in der Hand vor dem Spiegel steht – ein Bild im Bild im Bild (Fig. 7).24
Stalker (1979) basiert auf dem SciFi-Roman Piknik na obočine / Picknick am Wegesrand (1972) der Brüder Arkadij und Boris Strugackij, die auch das Drehbuch für den Film schrieben, oder genauer: es Tarkovskijs Vorstellungen gemäß mehrfach umschrieben. Während Soljaris trotz anderer Schwerpunkte noch deutlich an die Romanvorlage angelehnt ist, ist das filmische Endprodukt im Falle von Stalker lediglich vom Roman inspiriert. Die Romanhandlung, die zehn Jahre umspannt, wird im Film auf einen Tag verdichtet,25 das breite Figureninventar auf drei namenlose Archetypen – Stalker, Professor, Schriftsteller – reduziert und die vielfältigen Schauplätze fast ausschließlich auf die Zone eingeengt. Kurz gesagt: Tarkovskij gestaltet den Roman zu einer Tragödie nach antikem Vorbild um, die den drei aristotelischen Einheiten entspricht. Die Nähe zum Theater wird durch die statische Kamera unterstrichen, die die einzelnen Schauplätze der Zone als Guckkastenbühne erscheinen lässt, auf der die drei hölzern agierenden Figuren ihre Monologe deklamieren. Wie schon im Falle von Soljaris treten die Eigenheiten von Tarkovskijs ästhetischer Vision gerade vor dem Hintergrund der frappanten Unterschiede zur Buchvorlage deutlich hervor, sodass ich auch hier zunächst die im Roman entworfene Welt zumindest umreißen will.26 Erst nach dieser Vorarbeit lässt sich die Untersuchung des Motivkomplexes vornehmen.
Der wohl wesentlichste Unterschied liegt im Umgang mit den fantastischen Elementen und damit im Charakter der Zone: Bei den Strugackijs ist die Zone ein abgezäunter und streng bewachter Bereich, in dem die irdischen Naturgesetze nicht gelten.27 Zur Entstehung der Zone zirkulieren zahlreiche elaborierte Hypothesen. Eine von ihnen besagt, dass das Areal vielleicht bloß eine Raststätte für Außerirdische war, die nach dem titelgebenden Picknick am Wegesrand ihre Abfälle hinterlassen hätten. Die Zone ist nämlich voller Objekte mit eigentümlichen Eigenschaften: Sind die einen lediglich ästhetisch ansprechend, können andere bei Berührung Knochen in gummiartige Masse verwandeln oder noch Schlimmeres anrichten. Andere Objekte wiederum haben nützliche Eigenschaften: eines etwa verhält sich wie ein Perpetuum Mobile. Dementsprechend sind diese Gebilde von der Forschung, den Regierungen, der Industrie wie auch auf dem Schwarzmarkt heiß begehrt. Die Stalker sind bei den Strugackijs diejenigen, die widerrechtlich in die Zone eindringen und diese Objekte unter Einsatz ihres Lebens herausbefördern, um sie gewinnbringend zu verkaufen.
Doch nicht nur die einzelnen Gegenstände, sondern die Zone als Ganze wirkt auf ihre Umgebung: So lässt sie etwa Tote wiederauferstehen, die als wandelnde Leichname in ihre Häuser zurückkehren. Sie wirkt aber auch auf das Erbgut der Stalker, deren Kinder als genetische Mutanten die Welt erblicken. In Piknik folgen wir dem Schicksal des Stalkers Rėdrik Šuchart. Der moralisch aufrichtige Rowdy ist ein bildungsferner Alkoholiker und pflegt einen recht groben Umgangston. Die Zone dient ihm als Geldquelle zur Versorgung seiner Ehefrau und seiner Tochter Martyška, die als Kind des Stalkers und damit der Zone immer mehr einem Äffchen gleicht: Am Ende des Romans ist ihr Körper vollständig behaart und sie verliert die Fähigkeit zu sprechen. Um seine Tochter zu retten, begibt sich Šuchart auf die Suche nach einem kugelförmigen Objekt, das angeblich alle Wünsche erfüllen kann. Als er nach einem beschwerlichen Weg, auf dem er nicht davor zurückschreckt, seinen Reisegefährten zu opfern, endlich vor der Kugel steht, vermag er, dessen Sprache vornehmlich ein Raunen ist, keinen Wunsch zu formulieren – damit endet das Buch.
Bei Tarkovskij ist der namenlose Protagonist auch ein Stalker, der seine Familie zu versorgen hat und wegen der unerlaubten Besuche in der Zone schon im Gefängnis saß – darin erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten mit Šuchart. Der Tarkovskij’sche Stalker, dessen Wohnung eine große Bibliothek beherbergt, ist hochgebildet, drückt sich poetisch aus, lehnt Alkohol ab und gleicht darin eher einem Jurodivyj oder gar einem Heiligen, der in der Gegenwelt der Zone vor allem nach einer Art Glaubenserfahrung oder gar Erlösung sucht. Während bei den Strugackijs das Übernatürliche in und um die Zone allgegenwärtiger Teil des Alltags ist, gibt es im Film für diese Wunder keine Evidenz jenseits der Wahrnehmung der Figuren. Die wenigen vermeintlichen Wunder, die wir mit den drei Besuchern der Zone gewärtigen, sind bei näherer Betrachtung recht profan.28 Statt des wundertätigen außerirdischen Abfalls gibt es bloß viel nutzlosen irdischen Müll zu sehen.
In Stalker ist die Zone in erster Linie ein Wortgebilde, das vom Stalker als deren Priester in rätselhaften Aussagen und leeren Warnungen erschaffen wird. An die Stelle der Wissenschaft und des Extraterrestrischen treten hier Glaube und Spiritualität: Das Übernatürliche ist im Film ein Produkt der Vorstellungskraft – es existiert nur, wenn man daran glaubt. In Entsprechung damit verändert sich die Zone in Abhängigkeit von den sich wandelnden Einstellungen der Figuren ihr gegenüber. Noch deutlicher als der Nebel in Soljaris wird die Zone in Tarkovskijs Film zu einer Transzendenzmetapher sublimiert.29 Anschaulich wird diese Abstraktion an der Ersetzung der wunscherfüllenden Kugel in der Romanvorlage durch einen leeren Raum. Stalker setzt also Soljaris vor der Kulisse des Strugackij-Romans fort, der sich seinerseits in die Tradition von Lem stellt.30
Diese inhaltlichen Änderungen spiegeln sich auf der Ebene der Struktur. Aus der zehn Jahre umspannenden linearen Handlung, die in der Begegnung Šucharts mit dem Wunscherfüller kulminiert, wird im Film ein Tag, dessen Zyklizität im Plot nachempfunden wird. Die drei Protagonisten kehren augenscheinlich kaum verändert aus der Zone zurück, und zwar in jene heruntergekommene Kneipe, einen Warte- und Transitraum, in dem ihr metaphysischer Roadtrip begann. Die kreisförmige Struktur der Filmhandlung wird durch die Dreiteilung in Prolog, Hauptteil und Epilog unterstrichen: Der Hauptteil erscheint in Farbe und zeichnet sich durch eine statische Kamera und langsame Plansequenzen aus, mit denen die Zone vermessen wird. Die rahmende Handlung des Prologs und Epilogs, die etwa ein Drittel der Spielzeit einnimmt, spielt sich außerhalb der Zone ab. Dieser Rahmen wird vorwiegend in Sepia gezeigt und enthält neben den für Tarkovskij üblichen statischen Aufnahmen auch dynamische Sequenzen, die mitunter wie Episoden aus einem Actionfilm anmuten. Gestützt werden die Differenzen zwischen Rahmen und Haupthandlung auch von den Geschlechterverhältnissen: Die fremdartige Zone, in der der Stalker, der Schriftsteller und der Physiker als Vertreter der drei wesentlichen Weltzugänge, nämlich Glaube, Kultur und Naturwissenschaft, nach Sinn, Inspiration und Erkenntnis suchen, ist nur Männern vorbehalten.31 Die wenigen weiblichen Figuren treten nur im vergleichsweise sicheren, häuslichen Bereich außerhalb der Zone und also nur im Prolog und Epilog in Erscheinung, so auch die beiden weiblichen Hauptfiguren: die Frau und die Tochter des Stalkers.32 Genau hier ist der untersuchte Motivkomplex in Stalker verortet.
Frau und Tochter des Stalkers sind lose ihren Pendants bei den Strugackijs nachempfunden. Wie Martyška in Piknik scheint auch die Tochter in Stalker durch die Zone beeinträchtigt zu sein: Das kränkliche Mädchen kann weder gehen noch sprechen, und benötigt intensive medizinische Versorgung; das kurzgeschorene Haupt ist von einem Kopftuch umwickelt, sodass der Eindruck entsteht, das fragile Kind bestünde nur aus seinem Antlitz. Für diese Besonderheiten, so sagt zumindest ihre Mutter im Epilog, sei der Beruf des Stalkers ursächlich, dessen Erbgut durch die Zone verändert wurde. Martyška ist also Produkt und Personifikation der Zone als existentielles Extrem des Films in gleicher Weise, wie Harey Produkt und Personifikation von Solaris ist.33 Filmisch wird dies dadurch markiert, dass die beiden Szenen des ansonsten in Sepia gehaltenen Epilogs, die Martyška fokussieren – im Prolog sieht man sie nur wenige Augenblicke –, in Farbe erscheinen und dergestalt der Zonen-Handlung im Hauptteil zugeordnet werden. In der letzteren dieser Szenen, mit der auch der Film abschließt, sitzt Martyška allein am Tisch und liest in einem Buch. Als sie das Buch niederlegt, rezitiert eine Kinderstimme im Voiceover Tjutčevs „Ljublju glaza tvoi, moj drug…“ (1836, „Ich liebe deine Augen, mein Freund…“), ein der Vielgestaltigkeit des Blicks gewidmetes Liebesgedicht. Nach dieser Rezitation, die uns einen einmaligen Einblick in die Gedankenwelt des Mädchens gewährt, richtet Martyška ihren Blick auf die auf dem Tisch stehenden Gläser, die sie eins nach dem anderen mithilfe ihrer Gedankenkraft verschiebt.34 Das große Wunder, welches die drei herumphilosophierenden Männer (und mit ihnen die Zuschauer:innen) über die Dauer des Films in der Zone gesucht haben, ereignet sich ironischerweise jenseits der Zone und ihres Blicks. Während ihr metaphysischer Roadtrip zyklisch verläuft, sie sich also buchstäblich im Kreis drehen, gewärtigen die Zuschauer:innen schlussendlich und unverhofft das Mysterium der Zone, das unter religiösen Vorzeichen steht.
Zwar ist das Christentum als solches in Stalker nur hintergründig anwesend,35 die Familienkonstellation erscheint aber als eine zur Zone passende, gleichsam mutierte Abart der Heiligen Familie: Die Zone als diffuse Allegorie des Göttlichen, Wunderbaren und Übermenschlichen bringt vermittelt durch ihren ‚Heiligen‘, den Stalker, und dessen Frau, die außerhalb der Zone steht, ein Kind zur Welt, in dem sich Transzendenz und Immanenz, Zone und Nicht-Zone in menschlicher Gestalt verbinden. Ist die Tochter mit ihren ‚zwei Naturen‘ die Entsprechung Christi, so ist die Mutter eine Entsprechung Mariens. Das ‚Wunder‘, das die Tochter vollführt, wird in der vorausgehenden Szene durch die Mutter vorbereitet: Mit einer Zigarette in der Hand wendet sich die Frau des Stalkers als Wiedergängerin der Mütter und Ehefrauen in Soljaris und Zerkalo direkt der Kamera zu und erzählt den Zuschauer:innen in wenigen Minuten über ihr Zusammenleben mit dem Stalker (Fig. 8). Auf der formalen Ebene vollzieht der Film den Bruch der vierten Wand zwischen Fiktion und Wirklichkeit, den die früheren zwei Filme in einigen Episoden andeuten; auf der inhaltlichen Ebene bricht die Vergangenheit vermittelt durch die Mutter-Ehefrau in die Filmgegenwart ein. Dieser Fiktionsbruch, eine in Tarkovskijs Filmwerk einmalige Metalepse, präfiguriert als autoreferenzielles filmisches ‚Wunder‘ das tatsächliche Wunder auf der intradiegetischen Ebene, die telekinetische Bewegung der Gläser in der letzten Szene.36
Die Heilige Familie drängt auch insofern in die Wirklichkeit, als sie einen deutlichen (auto-)biografischen Index trägt, der auf die Familie Tarkovskijs verweist. Wie alle männlichen Protagonisten in Tarkovskijs Filmuniversum ist auch der Stalker ein Platzhalter des Regisseurs: Ein markanter grauer Fleck im ansonsten blonden Haar des Stalkers verweist vorausgreifend auf den Protagonisten des Nachfolgefilms Nostalghia, Andrej Gorčakov, der eine weitere fiktionalisierte Version seines Namensvetters Andrej Tarkovskij ist. Gorčakov wiederum wird von Oleg Jankovskij gespielt, der in Zerkalo, also dem Film, der Stalker vorausging, Arsenij Tarkovskij verkörperte. Arsenij Tarkovskijs Lyrik ihrerseits spielt auch in Stalker eine wesentliche Rolle: sein Gedicht „Vot i leto prošlo“ / „Nun ist auch der Sommer vergangen“ (1967), welches die unersättliche Sehnsucht und die selbst in Momenten höchsten Glücks unüberwindbare Wehmut des Menschen thematisiert, wird vom Stalker in der zentralen Szene vor dem wunscherfüllenden Raum rezitiert. Dieses engmaschige (auto-)biografische und auto-intertextuelle Verweisnetz, das die Figur des Stalkers als Spiegel (der) Tarkovskijs erscheinen lässt, wird zusätzlich durch ein autoreferenzielles Moment gestützt: Regisseur und Hauptfigur führen ihre inner- und außerfiktionalen Zuschauer:innen gleichermaßen auf nicht immer nachvollziehbaren, verschlungenen Wegen durch profane Landschaften, die sie durch sprachliches resp. filmisches Framing performativ mit metaphysischen Bedeutungen überformen und zu einem Medium der Transzendenz (v)erklären.37 Wie kein anderer von Tarkovskijs männlichen Protagonisten ist der Stalker ein Regisseur, der profanen Kulissen Geist einhaucht. Die realweltliche Entsprechung der fiktionalen wundertätigen Tochter, die der Stalker gemeinsam mit seiner Frau und mithilfe der von ihm verzauberten Zone hervorbringt, ist in dieser Lesart der von Tarkovskij erschaffene Film selbst, der dieses innerfilmische Wunder überhaupt erst medial ermöglicht. Aus der Produktionsgeschichte lässt sich in diesem Zusammenhang anfügen, dass sich Tarkovskijs zweite Ehefrau Larisa erfolglos um die Rolle der Stalker-Gattin bewarb, welche schließlich an Alisa Frejndlich ging (vgl. Surkova 2002: 159). Als Regieassistentin half Larisa Tarkovskaja ‚ihrem‘ Stalker dann aber hinter der Kamera.
Die Verbindung von Ehefrau, Gottesmutterschaft und der Zone als existentielles Extrem entsteht in Stalker auf recht intrikate und atypische Weise. Vermittelt über die Tochter als christusartige Figur wird die Heilige Familie evoziert, welche auf vielgestaltige Weise mit Tarkovskij realer Familie verbunden wird. Am Gespann von christusartiger Tochter und (Gottes-)Mutter kondensieren sich denn auch die Gegenüberstellungen von Eigen und Fremd, von Natur und Transzendenz, Vergangenheit und Gegenwart.
„Dedicato alla memoria di mia madre“, dem Andenken seiner 1979 verstorbenen Mutter widmet Tarkovskij seinen in Italien entstandenen Film Nostalghia (1983). Der Verlust der Mutter korrespondiert mit dem Verlust der Heimat: Nach Abschluss des Filmprojekts entscheidet sich Tarkovskij dafür, in Europa zu bleiben und nie wieder in die Sowjetunion zurückzukehren. Der Heimatverlust bildet auch das zentrale Thema und die existenzielle Extremsituation von Nostalghia: Der heimatsehnsüchtige russische Dichter Andrej Gorčakov zerreißt zwischen zwei Zeiten und Lebenswelten.38 In der Gegenwart durchstreift er begleitet von der Dolmetscherin Eugenia Italien auf den Spuren des fiktiven Komponisten Pavel Sosnovski.39 Dieser Reiseanlass gerät jedoch bald aus dem Blick, denn Gorčakovs Aufmerksamkeit richtet sich auf seine eigene Vergangenheit: Vor unseren Augen erstehen in Schwarzweiß gehaltene Szenen einer russischen Idylle, eines Landhauses, davor Weide, drumherum Bäume und ein See – der Bezug zu den beinahe identischen Szenen in Soljaris und Zerkalo liegt auf der Hand. In dieser idyllischen Erinnerungslandschaft, die uns noch unvermittelt bereits im Vorspann begegnet, bewegt sich Gorčakovs Familie, seine Mutter und seine zwei Kinder. Im Fokus dieser Szenen steht seine Ehefrau Marija, die mit ihrer heiligen Sanftmut, die sich in ihrem behutsamen Blick und den geschmeidigen Bewegungen ausdrückt, den diametralen Gegensatz zur temperamentvollen Italienerin Eugenia bildet.
Der autobiografische Index liegt schon allein durch das Thema auf der Hand. Andrej Gorčakov figuriert als ein Alter Ego Andrej Tarkovskijs.40 Augenfällig wird dieser Bezug in Tempo di viaggio / Italienische Reise (1983), den Tarkovskij 1979 zusammen mit Tonino Guerra drehte. Der Film dokumentiert die Planung von Nostalghia und „führt gewissermaßen zum Ursprung zurück – zum langsamen Entstehen der Idee auf der Ebene des Drehbuchs. Während der Reise und in den Gesprächen zwischen Tarkovskij und Guerra entsteht und konkretisiert sich die Idee zum Film Nostalghia, und gleichzeitig erschafft Tarkovskij sein Italien“ (Binder 2016: 98). Zahllose Themen, Motive, Ideen, Handlungsfragmente, Figurenskizzen und Schauplätze sind hier bereits enthalten: Die Dokumentation spiegelt den Spielfilm in gleicher Weise wie Tarkovskij seinen Helden Gorčakov.41 Während ersterer den Heimatverlust an den Tod der Mutter, Marija Višnjakova, bindet, allegorisiert sein fiktionaler Wiedergänger das verlorene Zuhause in seiner gleichnamigen Ehefrau.42 Wie in den vorigen zwei Filmen führt auch hier eine lyrische Spur zu Tarkovskijs Vater: Gorčakov wird von Oleg Jankovskij verkörpert, der schon im autobiografischen Zerkalo in die Rolle des Arsenij Tarkovskij schlüpfte. In Nostalghia rezitiert Jankovskij Tarkovskijs Gedicht „Ja v detstve zabolel“ / „Als Kind wurde ich krank“ (1966), das kaum zufällig vom Verschwinden der Mutter handelt. Ein zweites Gedicht, „Merknet zrenie – sila moja“ / „Meine Sehkraft erlischt – meine Kraft“ (1977), dessen Todesmetaphern auf das Ende des Films vorgreifen, wird in italienischer Übersetzung im Voice Over eingelesen. Der Gedichtband, aus dem diese Übersetzung stammt, versinnbildlicht in zwei Episoden die verlorene Heimat. In der italienischen Fremde beschwört Tarkovskij also seine Eltern herauf und schreibt sie auf unterschiedliche Weise in den Film ein.
Wenden wir uns nun den gegensätzlichen Frauengestalten auf der intradiegetischen Ebene zu: In Nostalghia personifizieren Gorčakovs Ehefrau Marija und die Dolmetscherin Eugenia zwei Zeitebenen, Vergangenheit und Gegenwart, zwischen denen sich das zentrale, titelgebende Thema des Films abspielt, nämlich die Nostalgie, verstanden als Sehnsucht nach etwas unwiederbringlich Verlorenem, das retrospektiv als ein verlorenes Paradies, eine Art irdische Transzendenz erscheint. Daraus lässt sich die Doppelung der weiblichen Gestalt erklären, die in Tarkovskijs Filmwerk in dieser Ausprägung ein Novum darstellt: Die ‚russischen‘ Filme beginnen zwar auch häufig mit zwei distinkten weiblichen Figuren, die jedoch auf irgendeine Weise zu einer Figur zusammenfließen, paradigmatisch in der Gleichsetzung von Mutter und Ehefrau in Zerkalo. In Nostalghia bleiben die beiden Frauen in jeder Hinsicht klar voneinander geschieden und stehen als Sinnbilder zweier inkompatibler Lebensentwürfe in einem komplementären Verhältnis zueinander. In den Übergängen zwischen Gegenwart und erträumter Vergangenheit, die in Gorčakovs Wahrnehmung zuweilen ko-präsent sind, löst die eine die andere ab. Formal wird dies entweder durch Match Cuts realisiert oder dadurch, dass eine das Antlitz der anderen verdeckt (Fig. 9).
Eugenia ist eine Verkörperung Italiens, der ihr zugeordnete Raum ist der Transitraum des Hotels, in dem sich die meisten Szenen zwischen ihr und Gorčakov abspielen. Sie spricht viel und schnell, zuweilen ist sie exaltiert. Als Gorčakov ihrem letzten und deutlichsten Verführungsversuch und damit der italienischen Gegenwart widersteht, verliert sie die Fassung und kehrt zu ihrem Verlobten nach Rom zurück. Marija, die ideale Ehefrau im Schwarzweiß der Vergangenheit, ist dagegen eine Allegorie Russlands. Das von ihr bewohnte Familienhaus auf dem Land, das auf der ‚russischen‘ Erde seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten seinen festen Stand zu haben scheint, steht im radikalen Kontrast zum Hotelzimmer als einem Raum der Flüchtigkeit und der schnellen Affäre. Eugenias sexualisierten Körperlichkeit, die auf die Freuden des Diesseits gerichtet ist, steht die sublime asexuelle Anmut Marijas gegenüber, die in Gorčakovs Erinnerungen so erscheint, als sei sie nicht ganz von dieser Welt. Um als Personifikation der zum Paradies verklärten russischen Vergangenheit figurieren zu können, benötigt Marija Eugenia als Negativfolie.
Marijas Bezug zur Gottesmutter, der schon im Namen und ihrer Erscheinung deutlich angelegt ist, wird durch eine Gemäldereferenz explizit: Piero della Francescas Fresko Madonna del Parto / Madonna der Geburt (um 1460).43 Gorčakov und Eugenia nehmen eine weite Fahrt auf sich, um das Meisterwerk zu betrachten, das sich von den Konventionen seiner Entstehungszeit dadurch abhebt, dass es die Gottesmutter in einem späten Stadium der Schwangerschaft auf eine wirklichkeitsnahe Weise zeigt – als Frau, die trotz des göttlichen Auftrags sichtlich unter der körperlichen Last leidet.44 Bemerkenswert ist, dass Gorčakov sich nach der mühsamen Anfahrt weigert, das Kloster zu betreten und stattdessen in Erinnerungen an sein Zuhause schwelgt – diese Verweigerung präjudiziert seine ablehnende Haltung gegenüber der italienischen Gegenwart, die er den gesamten Film über beibehält. Zurück im Hotel begibt sich Gorčakov nach einem Gespräch mit Eugenia zur Nachtruhe und träumt von Marija, die in einem der Erinnerungsfragmente schwanger ist.45 Einige Episoden später beantwortet Gorčakov die Frage nach Marijas Äußerem, sie sehe aus wie Pieros schwangere Madonna, „nur ein wenig schwärzer“ („ma più nera“) (Fig. 10). Gorčakov zieht also einerseits seine lebendige Erinnerung an seine russische Ehefrau dem italienischen Fresko vor, stilisiert aber andererseits ebendiese Erinnerung nach dem Fresko, zwängt also der russischen Wirklichkeit Muster der westlichen Kunst auf, verfremdet sie damit und stellt sie als filmisches Gemälde still.46 Hierin zeigt sich eine zentrale Paradoxie der Nostalgie als Bedürfnis, etwas offen und lebendig zu halten, was faktisch abgeschlossen und unabänderlich ist.
Eugenia als Allegorie der lebendigen Gegenwart hat im Gegensatz zur ‚heiligen‘ Marija konsequenterweise kein konkretes Referenzgemälde, auf dem sie stillgestellt wird, jedoch evozieren ihre üppige feuerrote Haarpracht und ihre sexuelle Freizügigkeit sowohl die zahllosen Venus-Darstellungen der Renaissance (Botticelli, Cranach d.Ä., Tizian, Rubens) als auch das ikonografisch gefestigte Bild der Maria Magdalena (s. auch Franz 2015: 113–115).47 Vor Pieros Bildnis der schwangeren Madonna führt sie zu Beginn des Films mit einem Küster ein Gespräch über die Rolle der Frau: Der Kirchendiener meint, diese liege vor allem in der Prokreation, die dem Glauben entfremdete Eugenia vertritt offenbar eine aufgeklärtere Ansicht, auch wenn sie diese nicht ausbuchstabiert. Emanzipierte Weiblichkeit wird in Nostalghia mit Kreations- und Transzendenzunfähigkeit assoziiert, auch wenn diese Bestimmung, wie Dan Jones (2006: 96–98) zeigt, in der ambivalenten Schwebe verbleibt: Die entblößte Brust lasse sich nicht nur als Verführungsversuch auslegen, sondern auch als Verweis auf den Bildtypus der stillenden Maria.
Gestützt wird die Gegenüberstellung der zwei Frauen durch diejenige von Wasser und Feuer. Die vier Elemente spielen in Tarkovskijs Filmwerk eine so wesentliche Rolle, dass Robert Bird seine wegweisende Studie Andrei Tarkovsky: Elements of Cinema (2008) nach ihnen strukturiert hat. Dabei sind die Bedeutungen der Elemente keineswegs statisch und selbst innerhalb einzelner Filme mehrdeutig. In Nostalghia versinnbildlicht Wasser vor allem in Verbindung mit alten, verfallenden Bauten die Erinnerung: Stehendes Wasser, metaphorisiert in der poetischen Logik des Films das individuelle wie auch das kulturelle Gedächtnis, das zum meditativen Innehalten anhält. Gerät das Wasser in Bewegung, löst es Erinnerungen aus.48 Gorčakovs Rückblenden werden stets durch das nasse Medium wachgerufen, durch ein Flüsschen, durch Regen, durch das Herumstreifen in einer überfluteten Kirchenruine, in der Wasser von der Decke tropft.49 Demgegenüber steht das Feuer, das gleich in der ersten Szene vor Pieros Bildnis der schwangeren Madonna mit dem christlichen Glauben und der Geburt verknüpft wird, d.h. mit dem Leben als zukunftsbezogener Gegenwart. Im Gegensatz zum Wasser, das autark auf ewig in sich zu ruhen vermag, verbraucht das Feuer Ressourcen, es ist also endlich, darum auch mit dem Tod assoziiert, wovon die Selbstverbrennung des Apokalyptikers Domenico am Ende des Films zeugt. Die beiden Elemente in diesen spezifischen Bedeutungen werden wie auch die anderen Isotopien des Films bereits in seiner Exposition mit den Frauengestalten verbunden: Während die temperamentvolle Eugenia mit feuerrotem Haar in der von Kerzen erleuchteten Kapelle aufmerksam Pieros Fresko betrachtet, schweift der vor der Kapelle an einem Flüsschen stehende Gorčakov in die russische Vergangenheit ab, die in der sanften Marija allegorisiert wird.
Die letzte Szene von Nostalghia zeigt Gorčakov, der in der russischen Naturidylle vor seinem Haus zu sitzen scheint. Allmählich zoomt die Kamera heraus und gibt einen Blick auf die Umgebung frei: das Haus steht inmitten der gigantischen Ruine der Zisterzienserabtei Abbazia San Galgano bei Siena, die bereits in einer früheren Szene zu sehen ist. In dieser nur in der Kunst möglichen Projektion verdichten sich bildhaft Gorčakovs gescheiterten Versuche, seine erinnerte Heimat in Italien zu implementieren.50 Weil er nicht in der Lage ist, sich von der Vergangenheit zu lösen, wird er nun selbst Teil eines der statischen Erinnerungsbilder, in die er sich flüchtet.51 Gorčakov erstarrt, anders gesagt, im Zwischenraum zweier Zeitebenen, die in den komplementären Frauengestalten personifiziert werden, von denen keine ‚vollwertig‘ ist: Die mithilfe des Madonnenfreskos zur Gottesmutter verklärte Ehefrau Marija, die Hüterin des Hauses und der Vergangenheit, die qua Name und Widmung des Films auf Tarkovskijs eigene Mutter verweist, ist in der Gegenwart nicht erreichbar. Eugenia als deren komplementäres Negativ wäre zwar in der Gegenwart verfügbar, taugt in Gorčakovs Wahrnehmung als transzendenzunfähige emanzipierte Frau jedoch nicht zur Gattin und Mutter.
In Bezug auf den Motivkomplex liegt das Novum von Nostalghia darin, dass hier erstmals nicht eine Frauenfigur im Mittelpunkt steht, die mit anderen überblendet wird, sondern zwei weitestgehend distinkte, oppositive Frauengestalten. Die Gegenüberstellung von Marija und Eugenia, mütterlicher Ehefrau und (gescheiterter) Geliebter, von Heiliger Mutter und Hure, von Geist und Körper, von Prokreation und sexueller Ausschweifung, von Schweigen und Vielreden, von Stillstand und Bewegung, von Vergangenheit und Gegenwart, Wasser und Feuer, von Haus und Hotelzimmer, von Russland und Westeuropa, Heimat und Fremde lässt sich in der Dichotomie von Ewigkeit und Endlichkeit zusammenfassen. Nun ist es aber keineswegs so, dass Tarkovskij in diesem Film in Antizipation seines italienischen Exils auf naive Weise seine Heimat, die er nie mehr wiedersehen sollte, idealisiert. Krankhafte Nostalgie, so zeigt der Film, verhindert das Leben in der Gegenwart, indem sie diese mit Simulakren einer zum Ideal verabsolutierten Vergangenheit überschreibt. Das Leben vollzieht sich vielmehr in einem Gleichgewicht von Gegenwartszuwendung und Vergangenheitsbezug, das Gorčakov aber nicht herzustellen vermag.52
Tarkovskij drehte seinen letzten Film Offret / Das Opfer (1986) auf der schwedischen Insel Gotland. Er vollendete ihn auf seinem Sterbebett. Die Handlung dieses filmischen Schwanengesangs ist im Gegensatz zu den restlichen Filmen der Heptalogie nicht einfach zu greifen, zur Rekonstruktion des Motivzusammenhangs muss sie aber zumindest im Grundriss freigelegt werden.
Alexander (Erland Josephson) ist ein ehemaliger Theaterdarsteller, der sich aus dem Rampenlicht der städtischen Bühnen auf eine Insel zurückgezogen hat. In der idyllischen Abgeschiedenheit hat er ein Haus errichtet, das zumindest äußerlich den Datschen in Tarkovskijs früheren Filmen gleicht.53 Ähnlich wie der Apokalyptiker Domenico, den Josephson in Nostalghia verkörperte, isoliert Alexander seine Familie, seine Ehefrau und zwei Kinder, in Erwartung eines globalen Unglücks, das er als konsequentes Ende der unauthentischen, weil von Natur und Spiritualität entfremdeten Kultur betrachtet. Kaum ist die Exposition mit der Vorstellung der Dramatis personae abgeschlossen, die sich im Haus zur Feier von Alexanders Geburtstag zusammenfinden, bricht die Apokalypse in Gestalt eines nur vage angedeuteten Krieges aus – oder auch nicht. Offret lässt sich nämlich doppelt lesen:
Alles, was wir auf der Leinwand sehen, ist real, d.h. wir haben es mit einer semiphantastischen Erzählung vom (abgewendeten) Weltende zu tun.
Das Gros der Szenen zwischen Exposition und Schlussepisode, in der Alexander seine häusliche Idylle in Brand setzt, wird durch das Prisma eines wahnhaften Traums gezeigt, d.h. der Film erzählt vornehmlich Alexanders psychischen Verfall aus dessen Innensicht.
Für beide Lesarten gibt es gute Argumente, jedoch geht keine der beiden restlos auf. Der ontologische Status des Erzählten bleibt auch nach dem Abspann ambivalent und die beiden Wirklichkeiten damit ko-präsent (s. auch Giralt 2005: 78–79). Aus Alexanders Perspektive jedenfalls sind die Ereignisse real, weshalb ich im Folgenden auch auf diese Weise von ihnen sprechen werde, ohne jedes Mal auf die Möglichkeit ihres wahnhaften Ursprungs hinzuweisen.
Kurz nach dem (vermeintlichen) Kriegsausbruch schließt Alexander gleich zwei Verträge mit Gott, um das Gestern, den Status Quo ante wiederherzustellen.
Der numinose Briefträger Otto, eine Art Hermes, der für die abgeschiedenen Insulaner nicht nur die Verbindung zur Außenwelt, sondern scheinbar auch zur Götterwelt pflegt, erklärt Alexander, die einzige Möglichkeit, den Kriegsausbruch ungeschehen zu machen, sei der Beischlaf mit dem Dienstmädchen Maria.
Alexander selbst gelobt in einem Gebet, alles zu opfern, was ihm lieb und teuer ist.
In der Dämmerung bricht Alexander zum verfallenen Haus auf, in dem das Dienstmädchen Maria lebt, und schläft mit ihr;54 als er am nächsten Morgen erwacht, scheint es, als hätte es den Krieg nie gegeben.55 Als die Geburtstagsgesellschaft nach dem Frühstück zu einem Spaziergang aufbricht, löst Alexander sein Versprechen Gott gegenüber ein und setzt in der fulminanten Schlussszene des Films sein geliebtes Haus in Brand: Er bringt seine private Idylle, die Integrität seine Familie und damit sich selbst als Opfer dar.
Alexanders zwei Opfergaben zur Errettung der Menschheit, Beischlaf und Verbrennung, lassen sich mit der Gegenüberstellung von Kreation und Vernichtung, von Geburt und Tod oder allgemeiner: Anfang und Ende umschreiben. Diese zentrale Dichotomie von Offret verdichtet sich in dem Referenzgemälde des Films, Leonardo da Vincis Adorazione dei Magi / Anbetung der Könige aus dem Morgenland (1481). Das unvollendete Gemälde wird im Detail bereits ausführlich im Vorspann gezeigt, im Film selbst nimmt dessen Reproduktion einen prominenten Platz in Alexanders Studierzimmer ein und ist in mehreren Einstellungen zu sehen; schließlich sind auch einige Szenen des Films, so etwa die erste und die letzte, kompositorisch dem Gemälde nachempfunden. Das Gemälde zeigt (gemäß einer Lesart) in der oberen Bildhälfte zerfallene antike Bauten, vor denen sich berittene ‚Heiden‘ bekämpfen (Fig. 11). Davon unbeeindruckt versammelt sich im Bildvordergrund eine neue Gemeinschaft von Gläubigen um die Muttergottes, die das Christuskind auf dem Schoß hält.56 Der Untergang der alten, antiken Welt und der Beginn einer neuen Zeit unter dem Banner des Christentums fallen hier ebenso wie in Offret zusammen: Während Alexander nach der Vernichtung ‚seiner Welt‘ in eine Pflegeanstalt abtransportiert wird und der Rest der Familie – als Pendant zu Leonardos ‚Heiden‘ – sich fassungslos um das brennende Haus versammelt, erholt sich Alexanders Sohn unter den Augen der Dienstmagd Maria wie Leonardos Christuskind unter einem verdorrten Baum, den Alexander und er in der allerersten Szene einpflanzen. Beide Bäume sind durch einen Match Cut verbunden: Auf die Detailaufnahme des gemalten Baumes im Vorspann folgt unmittelbar eine Aufnahme der Einpflanzung, mit der die Filmhandlung einsetzt.57
Apokalypse und Neuanfang bilden die existentielle Extremsituation von Offret, die in Leonardos Darstellung der Gottesmutterschaft eine Mise en abyme findet, welche sich ihrerseits in der zentralen Frauengestalt des Films, der Magd Maria (Guðrún Gísladóttir) spiegelt. Eingeführt wird Maria als eine sanfte, ärmlich gekleidete, ein wenig verschreckte und abgemagerte Gestalt, die von der Herrin des Hauses, Alexanders Ehefrau Adelaide, etwas unwirsch herumbefohlen wird (dem Hausmädchen Julia gegenüber verhält sich Adelaide hingegen beinahe mütterlich). Marias ‚Martyrium‘ korrespondiert damit, dass sie die einzige fromme Figur in Offret zu sein scheint, wovon zahlreiche Elemente in ihren bescheidenen Wohnräumen zeugen, die sich weitab von Alexanders prächtigem Haus in einer Scheune hinter einer leerstehenden Kirche befinden.58 Ihr soziales und spirituelles Außenseitertum wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sie als Isländerin, also auch in nationaler Hinsicht eine Fremde unter den Dramatis personae ist.59
Diese Aura einer leidenden, randständigen Heiligen wird in der Schlüsselepisode des Films intensiviert, in der Alexander der Anweisung des Postboten Otto folgend Marias hinfälligen Hof aufsucht, um mit ihr zu schlafen. In dieser Episode wird sie mit Leonardos Mariendarstellung gleich mehrfach verbunden:
Visuell-ikonografisch: Marias äußere Erscheinung, d.h. Antlitz, Kopfbedeckung, Kleidung, gleicht derjenigen der Gottesmutter auf dem Gemälde. Vor dem Beischlaf legt Alexander, der sich für das Heil der Welt opfern will, seinen Kopf auf ihren Schoß (Fig. 12). Die Komposition dieser Szene, die sich unter einem Kruzifix abspielt, evoziert die Pietà, die Klage Marias über den Tod Christi, ein Motiv, das Leonardos Darstellung der Madonna mit Kind negativ spiegelt. Das gemalte und das filmische Bild spannen zwischen Geburt und Tod Christi einen intermedialen Bogen, der auch Antike, Renaissance und Gegenwart verbindet.
Erzählerisch-strukturell: In der vorhergehenden Episode, in der Otto Alexander den Auftrag erteilt, zu Maria zu gehen, betrachten die zwei Männer die Reproduktion des Gemäldes – die gemalte Gottesmutter Maria wird so zur Vorausdeutung auf die reale Magd Maria. Nach dem Besuch bei Maria wacht Alexander unter der Reproduktion auf. Ebenso wie der Film in seiner Ganzheit wird die Maria-Episode durch das Gemälde initiiert und endet mit ihm – es ist in beiden Fällen der Ausgangs- und zugleich Fluchtpunkt. Die Maria-Episode ist somit strukturell betrachtet eine Mise en abyme des Films, in der sich Leonardos Gemälde als dessen inhaltlich-motivische Mise en abyme (negativ) spiegelt.
Marias Überblendung mit Leonardos Gottesmutter wird zusätzlich durch den auto-intertextuellen Bezug auf Nostalghia gestützt und so wie in einem Spiegelkabinett vervielfacht: Maria selbst ist eine Kopie der gleichnamigen Ehefrau Gorčakovs, die ihrerseits ein Abbild von della Francescas schwangeren Madonna ist. Die schwache Ausleuchtung in Marias Wohnung lässt die Beischlaf-Episode schwarzweiß erscheinen, die auch in dieser Hinsicht Gorčakovs in Schwarzweiß gehaltenen Erinnerungen an seine Ehefrau Marija evoziert.
Andere Momente der Maria-Episode verweisen wiederum auf Zerkalo und Soljaris, womit das Thema Mutterschaft per se aufgerufen und darüber vermittelt eine autobiografische Brücke zu Tarkovskijs Mutter geschlagen wird. Als Alexander in Marias Haus ankommt, bemerkt sie das seine Hände schmutzig sind und wäscht sie auf traditionelle Weise, nämlich mithilfe einer Schüssel und eines Krugs – eine Sequenz, die in beinahe identischer Form in Soljaris und Zerkalo auftaucht, in denen die beiden fiktionalisierten Varianten von Tarkovskijs Mutter, Marija Višnjakova, auf dieselbe Weise die Hände ihrer Söhne reinigen (Fig. 13).60 Anschließend setzt sich Alexander an ein Harmonium und spielt einige Noten von Bachs „Präludium und Fuge d-moll“ (BWV 539), das er schon als Kind spielte. Auch in Soljaris und Zerkalo werden zentrale Mutter-Szenen mit Bachs Werken verbunden, in Soljaris die Familienvideos (BWV 639), in Zerkalo etwa die Eröffnungsszene mit der Mutter auf dem Zaun (BWV 614).
Zurück zu Offret: Die Waschung und die Musik rufen bei Alexander eine Erinnerung an das Haus seiner Mutter wach, die Bachs Präludium liebte: Als sie schon alt und krank war, brachte er, so erzählt Alexander, ihren verwilderten Garten in Ordnung, stellte aber am Ende seiner Arbeit fest, dass er ihn gerade dadurch entstellt habe. Wie schon die Musik und die Waschung evoziert auch diese Erzählung die russische Idylle aus Zerkalo und deren Kopien in Soljaris und Nostalghia. Gefestigt wird diese auto-intertextuelle Verbindung, als es zwischen Alexander und Maria schließlich zum Beischlaf kommt: Die Liebenden erheben sich in die Luft und schweben – eine Referenz auf die Levitationszene in Zerkalo, in welcher der filmische Wiedergänger des Vaters oberkörperfrei die liegend schwebende Mutter streichelt.61 Am nächsten Morgen erwacht Alexander in seinem eigenen Zimmer unter der Leonardo-Reproduktion mit dem Wort „Mama“ und benennt die aufgerufenen Mutter-Assoziationen damit explizit.
Das letzte fehlende Element ist die Ehefrau: Zwischen der Beischlafszene und Alexanders Erwachen am nächsten Morgen sehen wir recht unvermittelt zunächst einige kurze Traumfragmente des schlafenden Alexander. In dieser Traumsequenz verschmilzt die Magd Maria mit Adelaide, Alexanders Ehefrau und Mutter seines jungen Sohnes: Adelaide, die ehemalige Schauspielerin, ist in der ersten Hälfte des Films in einem prächtigen, hellen Kleid zu sehen, das an ein Bühnenkostüm erinnert und so ihren theatralischen Charakter unterstreicht. Maria als oppositive Figur trägt dieser Theaterlogik folgend ein verschlissenes schwarzes Kleid, das als Kostüm ihrer sozialen Rolle entspricht. In Alexanders Traum fallen die Figuren zusammen: Alexanders Perspektive einnehmend hören wir Adelaides Stimme, die den Träumenden zu beruhigen versucht, sehen aber zugleich Maria, die Adelaides Kleid und deren aufwändige Frisur trägt (Fig. 14); ein anschließender Match cut zum Closeup von Leonardos Maria vollendet diese Überblendung von Ehefrau, Mutter, Mariengestalt und Gottesmutter (vgl. Fig. 11).62
Halten wir fest: Das Motivgefüge findet in Tarkovskijs letztem Film seinen komplexesten und zugleich deutlichsten Ausdruck. Die Gestalt der Maria wird innerfilmisch auf intrikate Weise mit Alexanders Mutter, mit Alexanders Ehefrau Adelaide und der Gottesmutter auf dem Gemälde Leonardos verknüpft. Auf der autotextuellen Ebene wird diese Überblendung verstärkt durch den Bezug auf andere, ähnliche Frauengestalten Tarkovskijs. Vor allem durch die Referenzen auf Zerkalo assoziiert der Film Maria mit Tarkovskijs realer Mutter, Marija Višnjakova. Diese autobiografische Spur wird ganz zum Schluss noch einmal vertieft: Der endzeitlich gestimmte Künstler und Denker Alexander, der mit seiner irdischen Existenz abschließt, ist zweifelsohne ein Wiedergänger des sterbenden Tarkovskij.63 Alexanders namenloser Sohn lässt sich dieser Spur folgend als fiktionale Spiegelung von Tarkovskijs Sohn auslegen: Während Alexanders Sohn am Schluss des Films Leonardos Christusknaben gleich am verdorrten Baum verweilt, fährt die Kamera den Stamm entlang langsam nach oben, just so, wie sie im Vorspann am Stamm der Palme auf Leonardos Gemälde entlanggleitet. An der Krone angekommen hält sie inne, bis die Widmung des sterbenden Tarkovskij an seinen Sohn Andrej eingeblendet wird, dem er „diesen Film“ mit „Hoffnung“ und „Vertrauen“ zueignet. Hoffnung und Vertrauen sind passende Schlagworte für den endzeitlichen und zugleich zukunftsgewandten Film über Apokalypse und Wiedergeburt, der – für Tarkovskij untypisch – die Vergangenheit beinahe völlig ausspart: Während Alexanders Sohn in der ersten Szene infolge einer Operation am Hals schweigend seinem monologisierenden Vater lauschte, spricht er der letzten Szene zum ersten Mal, genauer: er zitiert den Beginn des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort“ (Joh 1,1). Der redselige Vater zieht sich, endlich leergeredet, ins ersehnte Jenseits zurück und lässt den Sohn zur Sprache und also Weltgestaltung kommen. Dieser Neuanfang steht im Zeichen der Ewigen Wiederkunft, die für Offret maßgeblich ist:64 Der Sohn ist auch eine Wiederholung des Vaters. Nicht zufällig stand diese Denkfigur auch im Zentrum von Zerkalo, wo derselbe Schauspieler, Ignat Danil’cev, sowohl den Protagonisten Aleksej als Kind in der Vergangenheit als auch dessen Sohn Ignat in der erzählten Gegenwart verkörpert. In einer Szene erscheint Ignat ein Ereignis, das ein Kindheitserlebnis seines Vaters wiederholt, als Déjà-vu.65 Mit dem Zusammenfall von Ende und Anfang in der Ewigen Wiederkunft lässt sich schließlich auch die Gesamtheit von Tarkovskijs Œuvre umschreiben, insofern die Gestalt des Kriegs getarnte Apokalypse als existenzielles Extrem von Offret auf Ivanovo Detstvo verweist, Tarkovskijs ersten Spielfilm, dem wir uns nun widmen wollen.
Ivanovo detsvo beginnt mit der gleichen Sequenz, mit der Offret endet. In einer nahen Einstellung zeigt uns die Kamera einen kleinen Jungen, der neugierig ein taufeuchtes Spinnennetz betrachtet, das sich an einer jungen Kiefer aufspannt. Nach wenigen Augenblicken setzt sich die Kamera in Bewegung, fährt den Stamm entlang in die Höhe und offenbart uns aus dieser Perspektive einen Blick auf eine sommerliche Strandidylle, die sich schon bald als trügerische Illusion entpuppt. Tarkovskijs Spielfilmdebüt basiert nämlich auf Vladimir Bogomolovs Langerzählung Ivan (1957), die von einem 12-jährigen Späher der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg handelt. Ivan repräsentiert einerseits ein gebrochenes Einzelschicksal, ist aber zugleich auch die hypertrophe Verallgemeinerung des kriegsversehrten Kindes. In der letzteren Funktion ist der Junge auch ein fiktionaler Stellvertreter des 1932 geborenen Tarkovskij, der zum Zeitpunkt der Handlung etwa im gleichen Alter war. Die Aufmüpfigkeit und Eigenwilligkeit Ivans gegenüber seinen erwachsenen Kriegskameraden lässt sich dementsprechend auch als Rebellion des Tauwetter-Debütanten Tarkovskij gegenüber dem sowjetischen Filmbetrieb lesen.
In Ivanovo detsvo etabliert Tarkovskij erstmals die weibliche Dreifachrolle von Ehefrau, (Gottes-)Mutter und existenziellem Extrem, wobei die einzelnen Elemente hier noch klar getrennt sind. Bemerkenswert ist, dass sich keines der Elemente in Vladimir Bogomolovs Vorlage findet, die Tarkovskij ansonsten recht treu adaptiert. Ja, es gibt nicht einmal eine nennenswerte weibliche Figur. Anders gesagt: Die wesentlichen Modifikationen des Texts, die Tarkovskij für die Verfilmung vornimmt, ermöglichen erst die Einarbeitung der Bauteile des Motivkomplexes, dessen fundamentale Bedeutsamkeit für die Heptalogie dergestalt noch einmal werkgenetisch verdeutlicht wird.
Betrachten wir wie schon bei Soljaris und Stalker zunächst die Gemeinsamkeiten zwischen Text und Film. Beide konfrontieren uns gleichermaßen mit finsteren Innenräumen und kriegsverwüsteten, kargen Winterlandschaften, die oft ins bedrohliche Dunkel der Nacht gehüllt sind. Das Frontgeschehen als existentielles Extrem ist maskulin kodiert: Im Vordergrund des Films stehen neben Ivan der etwa 27 Jahre alte Hauptmann (kapitan) Cholin sowie der 21-jährige Leutnant Gal’cev, der bei Bogomolov die Handlung erzählt. Die Loslösung von Gal’cevs beengender Ich-Perspektive bildet die Voraussetzung für die zahlreichen Freiheiten, die sich Tarkovskij bei der Adaption erlaubt. Zu Cholin und Gal’cev gesellen sich als sekundäre Figuren der über 30-jährige Hauptfeldwebel (staršina) Katasonov sowie Oberstleutnant (podpolkovnik) Grjaznov, der auf die 50 zugeht. Der militärische Rang korrespondiert mit dem Alter und der Ausgeglichenheit des Temperaments. Die Männer bilden eine Art Mehrgenerationenfamilie, die Ivans biologische Familie ersetzt: Während der schon als altersweise markierte Grjaznov eine Art Großvater darstellt, ersetzt der noch ungestüme Gal’cev den älteren Bruder. Der sonst schlagfertige und recht abgebrühte Cholin erfüllt eine väterliche Rolle: In seinen Armen wird der frühzeitig erwachsen gewordene Ivan kurzzeitig zum Kind, das er eigentlich auch noch ist.66
In Bogomolovs Text findet sich lediglich eine Frauengestalt, eine Feldchirurgin (voenfeldšer), die auf knapp zwei Seiten eine so marginale Rolle spielt, dass sie nicht einmal einen Namen erhält (Bogomolov 2013: 36-38). Tarkovskij erweitert Bogomolovs Charakterskizze zu einer vollwertigen Figur mit dem Namen Marija, kurz Maša, die im Film in einigen Schlüsselszenen auftritt.67 In der männlichen Frontgemeinschaft wäre Maša der ‚natürliche‘ Mutterersatz, jedoch hat sie bezeichnenderweise keine einzige Interaktion mit Ivan. So bleibt sie lediglich ein Objekt der Begierde, um das sich Cholin und Gal’cev streiten, jedoch vermag es keiner der beiden unreifen Männer, aus der Kindfrau Maša eine Ehefrau oder Mutter, eben eine ‚vollwertige‘ Marija zu machen. Am Ende des Films wird Maša vom eifersüchtigen Gal’cev ins Hinterland versetzt.
Die Ausarbeitung der Maša-Figur steht exemplarisch für eine zentrale Adaptionsstrategie Tarkovskijs: die Aneignung des literarischen Stoffs durch dessen ‚Feminisierung‘. Diese zeigt sich noch deutlicher in der wohl größten Abweichung von der Textvorlage, die sich bereits in der Änderung des Titels von Ivan zu Ivanovo detstvo widerspiegelt: Wie später in Soljaris führt Tarkovskij in Ivanovo detsvo eine von Frauen dominierte Vergangenheitsebene ein, die in der Langerzählung nicht existiert und gerade darum besondere Beachtung verdient. Der Totalität der Kriegshölle bei Bogomolov stellt Tarkovskij als Kontrastfolie ein offenbar durch Ivans Erinnerung verklärtes Vorkriegs- und Kindheitsparadies in Gestalt einer Sommeridylle mit Sonne, Strand und Wald gegenüber.68 Während die Kriegsgegenwart eine weitestgehend männliche ist, ist die Vergangenheit mütterlich-weiblich kodiert: Hier begegnen wir Ivans Schwester und Mutter, die, wie wir später erfahren, von den Nazis ermordet wurden.69 Das Trauma, das im Film vielgestaltig thematisiert wird, motiviert Ivans Kriegseifer und Rachsucht. Bogomolovs Erzählung hingegen (2013: 43–44) skizziert Ivans Vorkriegsvergangenheit in zwei knappen Absätzen, wobei es hier Schwester und Vater sind, die getötet wurden. Ivans Mutter hingegen, die in zwei Nebensätzen erwähnt wird, ist lediglich unauffindbar – ein Umstand, der für die Figuren keine größere Bedeutung zu haben scheint. Wie schon im Falle der Feldchirurgin Maša in der Kriegsgegenwart erhebt Tarkovskij die namenlose Mutter in der von ihn hinzugefügten Idyllen-Vergangenheit zu einer zentralen Figur, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er sie von seiner ersten Ehefrau, Irma Rauš, verkörpern lässt. Bereits im allerersten Spielfilm assoziiert Tarkovskij also seine reale Ehefrau mit der Mutter seines innerfiktionalen Platzhalters Ivan.70 Wenngleich beide Gestalten hier noch klar durch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion getrennt sind, ist der autobiografische Index bereits vorhanden.
Während die Männergemeinschaft an der Front mitunter impulsiv und irrational agiert, sind die von Tarkovskij ‚ergänzten‘ Frauengestalten, Ivans Mutter und Maša, die die idealisierte vernichtete Vergangenheit resp. unvollkommene Gegenwart repräsentieren, eindimensional und statisch. Diese Statik wird in einem Ikonenfresko der Gottesmutter versinnbildlicht, das eine durch Artillerieeinschläge zerstörte Kirchenmauer ziert (Fig. 15). In diesem Bild, welches – wie auch die sonstige christliche Symbolik – in der Langerzählung nicht vorkommt, verdichtet sich die Idee des Films: Ivans ermordete Mutter und die noch nicht zur Mutterschaft gereifte Maša, die Ivans Mutter nicht ersetzen kann, erscheinen als Abbilder dieses vom Krieg beinahe verwüsteten Ur- und Idealbilds der Mütterlichkeit.
In Ivanovo detstvo beziehen sich die einzelnen Elemente des Motivkomplexes in erster Linie durch das Tertium des Mangels, durch die Unvollkommenheit resp. Abwesenheit, aufeinander. Gewiss spielt diese Negativität auch in den späteren Filmen eine Rolle, jedoch nicht die primäre. In Entsprechung damit lässt sich festhalten: Während die Frauenfiguren in den späteren Filmen als Transzendenzmetaphern für die existentielle Grenzsituation des Films stehen (Tod, Solaris, Zone, Exil, Apokalypse), ist dieses Verhältnis in Ivanovo detstvo noch ein negatives: Nicht die Frauen selbst versinnbildlichen den Krieg, sondern ihre Absenz. Ähnlich verhält es sich auch in Tarkovskijs zweitem Spielfilm über den wohl berühmtesten Ikonenmaler, Andrej Rublev.
In seinem zweiten Spielfilm imaginiert Tarkovskij das Leben des wohl berühmtesten Ikonenmalers, Andrej Rublev.71 In zwei Teilen, die acht Novellen sowie Prolog und Epilog umfassen, erzählt der Film schlaglichtartig die Jahre 1400 bis 1423. Im Gang durch die Stationen der Künstlerwerdung des Mönchs Rublev entsteht ein Querschnitt durch ein fiktionales Abbild der Moskauer Rus’ des frühen 15. Jahrhunderts, in dem sich die sowjetische Gegenwart spiegelt.72 Andrej Rublev ist in gleichen Maßen ein Historienfilm wie eine Künstlerbiografie, enthält einerseits Elemente des sowjetischen Produktionsfilms und lässt sich andererseits als eine verfremdende Systemkritik lesen, die die letzten Jahre des Tatarenherrschaft mit dem Sowjetsystem parallelisiert. In erster Linie aber ist der Film Tarkovskijs wohl expliziteste filmische Reflexion auf das Kunstschaffen: Anhand unterschiedlicher Künstlerfiguren in ihrem Verhältnis zur Masse, Macht und Ökonomie denkt der Film über Eitelkeit und Hybris, Talent und Talentlosigkeit, Kooperation und Konkurrenz, über Höhenflüge und Schaffenskrisen, Aufstieg und Fall nach. Der noch junge Andrej Rublev, der im erzählten Zeitraum seine berühmtesten Werke noch nicht gemalt hat, erscheint als eine urväterliche Spiegelungsfigur des über 500 Jahre später agierenden jungen Regisseurs Andrej Tarkovskij, die Ikone in Entsprechung damit als Vorläufer und Spiegel des Kinos. Das neueste visuelle Medium setzt sich selbstreflexiv ins Verhältnis zum ältesten (christlichen) Bildmedium der Rus’, inszeniert sich als dessen Fortsetzung, Aktualisierung, ja, sogar als Überbietung.
Auf unterschiedlichen Ebenen versucht der Film Bezüge herzustellen zwischen seinen bewegten Lichtbildern, die ein Jenseits hinter der Leinwand erschaffen, und den statischen Heiligenbildern, die ins Jenseits hinter der materiellen Welt verweisen (vgl. auch Drubek 2016, 186). Das Fehlen eines erzählerischen Fokus infolge der bruchstückhaften Novellen-Struktur lässt sich mit dem Polyzentrismus der Ikone vergleichen, der in der Darstellung eines Gegenstands aus mehreren Perspektiven auf die Nachahmung des göttlichen Sehens abzielt (vgl. Peschanskyi 2024: 68–77). Auch die ausdruckslosen, psychologiearmen, betont antimimetisch gespielten Figuren erinnern an die ‚flachen‘ und starren Heiligenantlitze auf Ikonen. Das Jenseits, das ein orthodoxer Christ hinter der Ikone zu erkennen glaubt, entspricht der unsichtbaren Welt jenseits der Kadrierung – eine Parallele, auf die der Film mit innerfilmischen Sichtbeschränkungen immer wieder aufmerksam macht (s. Bird 2008: 76–78). Auf der Handlungsebene setzt Andrej Rublev das Ideal der nicht von Hand gemachten Ikone um (vgl. Peschanskyi 2024: 56–64):73 Im Film, der sich der Ikonenmalerei widmet, sieht man an keiner Stelle den Malprozess: Er wird allerhöchstens in anderen Tätigkeiten allegorisiert, emblematisch, so Natascha Drubek (2016: 175–176), in der letzten und längsten Episode, in der eine Glocke gegossen wird. Mehr noch: Bis zum Epilog sehen wir kaum vollendendete Ikonen, sondern überwiegend unvollendete, verbrannte, vernichtete Heiligenbilder. „In den wenigen Szenen, in denen Ikonen […] doch vorkommen, sind sie Objekte der Ablehnung, des Nichtvollziehens“ oder sie „erscheinen in negativem Kontext“ (Drubek 2016: 171). Erst als Rublev in den letzten Minuten der achten und letzten Novelle seine zweite Schaffenskrise überwindet, zeigt der anschließende Epilog die von ihrem Urheber losgelösten Ikonen. Nach drei Stunden des von Gewalt, Schmutz und Elend geprägten Schwarzweiß erstrahlen die wichtigsten Werke Rublevs in Farbe; langsam werden sie in der Nachempfindung des Zuschauer:innenblicks in Detailaufnahmen abgefilmt (Drubek 2016: 171–175). Wie die alten Ikonenmaler versucht Tarkovskij also einen alternativen Wahrnehmungsmodus, eine Art ‚Neues Sehen‘ zu erzeugen, das die gewohnte Wirklichkeit transzendiert, wenngleich nicht unbedingt in einem dezidiert christlichen Sinne. Die Suchen und Krisen des Ikonenmalers Andrej im Bemühen mit irdischen Mitteln Himmlisches darzustellen, spiegeln die Suchen und Krisen des Regisseurs Andrej wider.
Das diesseitige Jenseitsstreben als existentielles Extrem wird in Tarkovskijs zweitem Film nur indirekt mit Weiblichkeit und Mütterlichkeit verklammert. Andrej Rublev erschafft eine männliche Welt: Im Verlauf des erzählten Vierteljahrhunderts begegnet der Protagonist lediglich zwei Frauen, die auf unterschiedliche Weise in Opposition zum Marienideal stehen und den Künstler in zwei Krisen stürzen lassen. Noch deutlicher als in Ivanovo detstvo erscheint hier der Motivkomplex in einer negativen, invertierten Gestalt: Beide Frauen taugen weder zur Ehefrau noch zur (Gottes-)Mutter und damit auch nicht zum Sinnbild des Jenseits, welches sie nicht im positiven Sinne, sondern aus dessen Negation heraus evozieren.
Der ersten der beiden Frauengestalten begegnet Rublev in der vierten Novelle „Prazdnik (1408)“ („Der Feiertag“). In der Nacht vor dem Johannestag (Ivan Kupala) wird er Zeuge davon, wie eine größere Gruppe ‚Heiden‘ die Sommersonnenwende feiert, sich dabei der freien Liebe hingibt und nackt im Fluss badet. Gebannt von dem nackten Fleisch wird der Voyeur Rublev alsbald von mehreren Männern gefasst, in einen Schuppen gezerrt und zu seinem Unmut in Kreuzigungspose gefesselt. Die Männer verschwinden bald und eine junge Heidin, Marfa, die Rublev schon zuvor bei ihrem Treiben beobachtet hat, betritt den Schuppen. Zwischen den beiden entsteht ein Glaubensdisput: Während Rublev sich über die viehische, das heißt körperliche Liebe der Heiden mokiert und die Abwesenheit der ‚richtigen‘ geistigen Liebe moniert, argumentiert Marfa, beide seien Erscheinungsformen derselben Liebe. Zum Nachweis ihrer These drückt die unbekleidete Frau Rublev gegen seinen Willen einen Kuss auf die Lippen und bindet ihn los. Am nächsten Morgen reist Rublev mit seinen Begleitern nach Vladimir weiter, wo er im Auftrag des Großfürsten eine Kirche mit den Szenen des Jüngsten Gerichts ausmalen soll. Kurz nach Aufbruch beobachtet er tatenlos vom Kahn aus, wie eine Gruppe Soldaten des Großfürsten Marfa und einem männlichen Begleiter erbarmungslos nachjagt; während der Mann gefasst wird, schafft es Marfa auf die andere Seite des Flusses zu schwimmen und so zu entkommen.74 Marfa lässt Rublev, der vor dieser Szene buchstäblich die Augen verschließt, an seinem Glauben zweifeln, insofern sie ihm ein alternatives, diesseitsgerichtetes Leben zeigt. Zugleich konfrontiert sie ihn, den Christen, mit seiner Untätigkeit angesichts der sehr irdischen Grausamkeit des Großfürsten, für den Rublev Ansichten des Jenseitigen festhalten soll.
In der unmittelbar daran anschließenden fünften Episode „Strašnyj sud (1408)“ („Jüngstes Gericht“) treffen wir Rublev in seiner ersten Schaffenskrise an: Die im Auftrag des Großfürsten auszumalende Kirche ist im Innenraum noch vollkommen weiß. Obwohl schon längst über der Frist hat Rublev noch keinen Pinselstrich getan. Die Begegnung mit der Heidin Marfa in der vorigen Episode ist zugleich Fanal und eine der Ursachen dieser Krise, die am Ende dieser fünften Episode durch die Begegnung mit einer zweiten Frauengestalt gelöst wird. Als Rublev nach einem weiteren Gewaltexzess des Großfürsten im höchsten Stadium der Verzweiflung Farbe auf die schneeweiße Kirchenwand schleudert und verschmiert,75 betritt eine stumme und offenbar geistig zurückgebliebene Frau den Kirchenraum. Ihre Erscheinung evoziert Marfas Flucht am Fluss: Sie ist vom strömenden Regen vollkommen durchnässt, ihr blondes Haar zerzaust, ganz so, als sei sie eben aus dem Wasser gestiegen.76 Die Namenlose, gespielt von Tarkovskijs Ehefrau Irma Rauš, durchstreift die Kirche und bleibt vor dem Farbfleck stehen, der sie zunächst fasziniert und alsdann in bittere Tränen ausbrechen lässt. Während die anderen Maler aus Rublevs Gefolge die junge Frau herablassend behandeln, nimmt Rublev sie, die er wohl für eine Gottesnärrin hält, in Schutz und kompensiert damit gleichsam seine Tatenlosigkeit angesichts der Verfolgung Marfas in der vorausgegangenen Episode. Beschwingt tritt er aus dem Gotteshaus durch das Tor wie durch eine Ikone in den Regen, die Gottesnärrin folgt ihm. Damit endet die 5. Novelle und zugleich der erste der beiden Filmteile. Die anschließende Ellipse impliziert, dass Rublev, der innerfiktionale Stellvertreter Tarkovskijs, und die von seiner Frau verkörperte Gottesnärrin eine Art platonische Beziehung eingehen. Damit sublimiert der Film gleichsam Tarkovskijs reale Ehe: In Gestalt seines fiktionalen Stellvertreters erscheint Tarkovskij als zölibatärer Künstler auf Transzendenzsuche, dessen Frau als weibliches Medium, das als eine Art fleischgewordene Ikone den Jenseitsbezug herstellt – so scheint es zunächst.
Im zweiten Teil wird diese Konstellation nämlich alsbald ins Negative verkehrt: In der ersten Novelle des zweiten Teils, „Nabeg (1408)“ („Der Überfall“), erschlägt Rublev einen Mongolen, der die Gottesnärrin in den Wirren des Blutbads in Vladimir wegschleppen will. Er rettet das Leben der Frau (und wohl auch ihre Unbeflecktheit) und treibt damit seine neue Beschützerrolle auf den Höhepunkt, nimmt dafür aber die höchste Sünde auf sich. Infolgedessen legt er ein Schweigegelübde ab und entsagt der Malerei. Diese zweite und nun noch größere Schaffenskrise wird dadurch verstärkt, dass die Gottesnärrin nur fünf Jahre später freiwillig mit einem Mongolen davonzieht, nachdem dieser ihr ein – eigentlich Hunden zugedachtes – Stück Pferdefleisch gibt und ihr anbietet, seine Frau zu werden (in der Episode „Molčanie (1412)“, „Das Schweigen“). Der Mord, den Rublev begeht, erweist sich damit als sinnlos, weil das, was er mit diesem Opfer zu verhindern suchte, dennoch eintritt.
Die nur scheinbar komplementären Figuren, die naturzugewandte Heidin Marfa und die weltabgewandte Gottesnärrin, erweisen sich in Bezug auf den Fortgang der Handlung als identisch: Beide verursachen bei Rublev Schaffenskrisen, wobei die Krise, die die vermeintliche Heilige auslöst, gerade aufgrund der Fallhöhe deutlich gravierender ist. Beide Frauen sind dem Fleisch verhaftet – diese der Fleischeslust, jene dem Pferdefleisch – und eignen sich damit nicht zur Personifikation der Gottesmutter und des Jenseits. In Entsprechung damit sind die Mariendarstellungen, die in einigen Szenen im Hintergrund zu sehen sind, bedeutungs- und wirkungslos: Lässt sich in Ivanovo detstvo der gesamte Film durch das Prisma des Marienfreskos fassen, so erscheinen die Marienikonen in Andrej Rublev bis zum Epilog als Staffage, als Ausdruck der Krise oder Gegenstand des Unverständnisses. Der Dreiklang von Ehefrau, (Gottes-)Mutter(-darstellung) und Jenseitsbezug zeigt sich hier in negativer Gestalt. Erst in der letzten Szene vollzieht sich die Wendung ins Positive, und zwar auf eine recht ungewöhnliche Weise, nämlich indem der Protagonist in der Schlussepisode selbst die Rolle Mariens einnimmt.
Rublev überwindet seine zweite Schaffenskrise erst am Ende der letzten und längsten Episode, „Kolokol (1423)“ („Die Glocke“), also 15 Jahre nach dem Ablegen des Schweigegelübdes. In dieser Episode beobachtet Rublev wie ein junger Mann, Boriska (Nikolaj Burljaev), im Auftrag des Großfürsten eine Glocke gießt: ein Projekt von kolossalem menschlichem und finanziellem Aufwand. Als am Ende der Mühen die Glocke erklingt, bricht Boriska zusammen: Es stellt sich heraus, dass er, der Sohn eines Glockengießers – entgegen seiner anfänglichen Behauptung – nicht in das Handwerk seines Vaters eingeführt wurde. Um der Kunst willen riskierte er sein Leben, wäre er doch im Falle eines Scheiterns gewiss hingerichtet worden. Genau dieser künstlerische Wagemut ist ausschlaggebend für Rublevs Rückkehr zu den Ikonen, die in einem kleinen ikonografischen Detail versinnbildlicht wird: Boriskas Glocke ziert eine Abbildung des St. Georg, genau jenes Heiligen, den die einzige Ikone zeigt, mit der Rublev den ganzen Film über interagiert: In Episode fünf, in der Rublev seine erste Krise in Vladimir durchlebt, betrachtet er eine zum Teil verbrannte St. Georg-Ikone (Fig. 16). In der gebrannten Glocke, so Robert Bird (2008: 96–98), ersteht die verbrannte Ikone in stählerner Gestalt aus der Asche auf – das fleisch- bzw. bildgewordene Wort Gottes erweist sich als unzerstörbar. Diese Wiederauferstehung symbolisiert auch die Auferstehung der Fürstentümer der Rus’, die sich in der erzählten Zeit von der mongolischen Herrschaft zu befreien beginnen und wieder Kontakte nach Westeuropa herstellen, das im Film durch die italienischen Gäste des Großfürsten repräsentiert wird. Der Künstler Rublev erscheint vor diesem Hintergrund als Personifikation dieser Renaissancen.
Die Metapher der (Wieder-)Geburt nimmt der Film dabei durchaus wörtlich: Um Boriska nach seinem Zusammenbruch zu trösten, der auf die Vollendung der Glocke folgt, nimmt Rublev den Jungen auf die gleiche Weise in seine Arme, so beobachtet Natascha Drubek (2016: 176–177, 182–185), die zwei zentrale christliche Motive evoziert (Fig. 17): einerseits die orthodoxe Eleusa-Ikone, die eine mitleidige und barmherzige Maria mit dem Christusknaben zeigt, andererseits die klagende Mater Dolorosa mit dem vom Kreuz genommenen Christus in den Armen auf katholischen Pietà-Darstellungen.77 „An die weibliche Stelle wird in Tarkovskijs Film eine männliche Figur gesetzt.“ (Drubek 2016: 177). Wie in Ivanovo detstvo substituiert auch hier eine Männergemeinschaft die abwesende Maria: Rublev als Ikonenschöpfer nimmt in der Nachstellung zweier zentraler Darstellungsweisen Mariens die Rolle der Gottesmutter ein, die weder die Heidin Marfa noch die stumme Gottesnärrin für ihn sein konnten. Die Szene lässt sich auch als metapoetischer Kommentar lesen: Rublev als fiktionales Spiegelbild Tarkovskijs hält den jungen Debütanten Boriska, der von Nikolaj Burljaev gespielt wird, welcher seinerseits im Debutfilm Ivanovo detstvo in Gestalt des Ivan eine frühere Spiegelfigur Tarkovskijs verkörperte.78 Es ist eine Autopoiesis: Der gereifte Künstler bringt sich als jüngeres Ich ohne weiblich-mütterliche Einmischung selbst hervor.
Die Bedeutsamkeit dieser ohnehin bedeutungsschwangeren Szene wird zusätzlich auf mehrfache Weise unterstrichen: Genau in dem Moment, in dem die Glocke erklingt, sieht Rublev die Gottesnärrin in der Menge der Schaulustigen. Oder genauer: Rublev erscheint eine Wiedergängerin der Gottesnärrin. Die Frau ist in strahlend weiße Kleidung gehüllt und wirkt in der ganzen von dunklen Farben und Schmutz gekennzeichneten Mise en Scène deplatziert und irreal: Sie schreitet durch die Szene wie eine Betrachterin durch das Museum. Als Rublev Boriska in den Arm nimmt und tröstet, sieht er die Frau noch einmal, diesmal weiter entfernt in der Totalen, nun vom Rauch einer Feuerstelle umhüllt wie von einer Aura. Der Klang der Glocke, der den Sieg der Kunst einläutet, befreit Rublev von dem Trauma des Mordes und des anschließenden Verrats: Die gefallene (Ehe-)Frau ersteht – zumindest in seiner Fantasie – wieder auf, während er selbst kurzzeitig die eigentlich ihr zugedachte Marien-Rolle einnimmt. Im Dreiklang von Glockengeläut, Erscheinung der Gottesnärrin79 und Nachstellung der Eleusa bzw. Pietà wird der Motivkomplex, dessen Elemente bis zu diesem Moment nur in negativer Gestalt erscheinen, ins Positive gekehrt. Genau hier bricht Rublev sein 15 Jahre währendes Schweigen, um Boriska zu trösten, gewinnt seine künstlerische Stimme wieder und zeichnet für sich und seinen Schicksalsgenossen den gemeinsamen künstlerischen Weg vor. Und genau mit dieser Episode schließt auch die Filmhandlung, woraufhin der Film nach drei Stunden vom Schwarzweiß zur Farbe wechselt und in Großaufnahme Ikonen zeigt, die dem realen Rublev zugeschrieben werden.80
In der Rolle der Muttergottes wird der bis dahin hauptsächlich beobachtende, schweigende und passive Rublev endgültig zum schöpferischen Subjekt, das sich selbst und die Welt zu gestalten vermag. Die dreifache Renaissance, d.h. die des Künstlers, der Ikonenkunst und der Moskauer Rus’, die am Ende der dreistündigen Darstellung mannigfacher Krisen und Untergänge steht, reklamiert der Film, der dies alles zeigt, auch für sich: Der Film beerbt die Ikone, der Regisseur Andrej den Ikonenmaler Andrej.
Tarkovskijs Frauenfiguren zeigen sich mal als Mutter, mal als Ehefrau oder Objekt der Begierde. In diesen Rollen changieren sie zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite steht Jungfrau Maria als Ideal der Mütterlichkeit und Geborgenheit, das sich eigentlich nur, so Johnson und Petrie (1994: 243), in idealisierten Erinnerungen realisieren kann;81 auf der anderen Seite steht die Negativfolie einer entfesselten, bedrohlichen, beinahe dämonischen Weiblichkeit – eine Ambivalenz, die Tarkovskij mit einem deutlichen autobiografischen Index versieht. Durch den Bezug zu den Bildmedien werden sie zu Projektionsflächen, an denen das zentrale Thema des Films als auch die zentralen Dichotomien von Tarkovskijs Heptalogie anschaulich werden.
Der fünfteilige Motivkomplex, der sich um Tarkovskijs Protagonistinnen formiert, stiftet als Konstante autointertextuelle Kohäsion innerhalb der Heptalogie und ist also ein Prisma, durch das Tarkovskijs Filmwerk erschlossen werden kann. Die konkrete Realisierung des Komplexes funktioniert dabei keineswegs als statische auktoriale Signatur, sondern variiert von Film zu Film. Dergestalt werden in jedem der Filme neue Bedeutungsfacetten der motivischen Verbindung freigelegt, die zu seiner Deutung in den vorhergehenden ebenso wie den nachfolgenden Filmen hinzugezogen werden können. Die Verbindung bietet, anders gesagt, sieben miteinander verbundene (Be-)Deutungsvarianten, die in jedem der Filme mitschwingen. Fehlt einmal ein Motivbaustein, so ist er zumindest durch das engmaschige Verweissystem der Heptalogie durch deutliche autointertextuelle Spuren gegenwärtig. Beachtenswert ist, dass der Motivkern an zwei Orten besonders sinnfällig wird.
Traum- und Erinnerungssequenzen: In jedem der sieben Filme träumt der nach Tarkovskij modellierte Protagonist, wobei es sich zumeist um eine verklärte Version der Vergangenheit handelt. In Kris’ Fiebertraum (Soljaris) lösen sich Ehefrau und Mutter als komplementäre Gestalten ab; Zerkalo besteht zum großen Teil aus solchen Erinnerungen, in denen der Protagonist Aleksej seine Mutter und seine Ehefrau vertauscht. In Gorčakovs Traum (Nostalghia) lösen sich die marienähnliche Ehefrau Maria und die temperamentvolle Dolmetscherin Eugenia ab. Alexander (Offret) träumt davon, wie die nach Leonardos Gottesmutter modellierte Magd Maria seine Ehefrau Adelaide ersetzt. Auch der kleine Ivan träumt von seiner Mutter, die von Tarkovskijs Ehefrau gespielt und nach dessen Mutter stilisiert wird. Der Stalker träumt zwar von einer Art Gegenwart, seine Träume erscheinen jedoch in Sepia, also in der Färbung, in der auch der Prolog und Epilog des Films gehalten sind, in denen seine Frau und Tochter als eigenwillige Abbilder der Gottesmutter und Christus figurieren. Andrej Rublev, schließlich, erscheint im Tagtraum eine in die Rus’ versetzte Golgotha-Prozession, in der sich auch eine Marienfigur findet, deren Rolle Rublev am Schluss selbst einnimmt.
Literaturverfilmungen: Ein anderer Ort, an dem sich der Motivkomplex deutlich zeigt, sind die Literaturverfilmungen, genauer: der intermediale Zwischenraum, der im Vergleich zwischen Film und Text entsteht. Gerade in den Abweichungen vom textuellen Ausgangsmaterial realisiert sich das Motiv: In Ivanovo detstvo und Soljaris fügt Tarkovskij eine idyllische Vergangenheitsebene hinzu, in deren Zentrum die Mutter steht, die mit der (Ehe-)Frau in der Gegenwart überblendet wird. Stalker kondensiert zehn linear erzählte Jahre in einem zyklischen Tag, um die Mutter und Tochter des Stalkers, die im Roman beinahe nur Staffage sind, in den Vordergrund zu rücken. Aufschlussreich wäre in diesem Zusammenhang auch ein Blick auf die Originaldrehbücher. Ein möglicher Annäherungspunkt wären diejenigen von Andrej Rublev und Zerkalo, die in Gestalt gut editierter Filmnovellen erschienen sind.82 Prima facie scheint es so zu sein, dass auch hier wesentliche Veränderungen in der Übertragung vom Text zum Film der Realisierung und Konturierung des Motivkomplexes dienen. So ist beispielsweise die zentrale Eleusa- bzw. Pietà-Komposition am Schluss des Films in der Rublev-Novelle nicht einmal angedeutet. Auch das Schicksal der Gottesnärrin ist in der Textvorlage noch ein gänzlich anderes.83
Die Evolution des Motivkomplexes beginnt schon in Tarkovskijs studentischen Kurzfilmen: Während Ubijcy (1956, Sowjetunion), eine Verfilmung von Hemingways Kurzgeschichte The Killers (1927), keine einzige weibliche Figur enthält, zeigen sich im Hintergrund von Segodnja uvol’nenija ne budet… / Heute gibt es keinen Feierabend… (1958, Sowjetunion) die ersten Frauen: Ein bei Bauarbeiten entdecktes Munitionslager aus dem Zweiten Weltkrieg droht einen gesamten Straßenzug in Schutt und Asche zu legen. Das Militär übernimmt die Räumungsarbeiten, die der junge Hauptmann Galič wagemutig leitet. In einigen, wenigen Szenen sehen wir Galičs Ehefrau, eine engelsgleiche, devote femme fragile, die mit ihrem Mann kurz vor Beginn der lebensgefährlichen Aktion zwei Worte wechselt und sich in einer späteren Episode mütterlich um die aufs Land evakuierten Zivilisten kümmert. Zeitgleich zur Räumung führt ein sowjetisch-heldenhafter Chirurg in einem naheliegenden Krankenhaus eine Notoperation durch, bei der ihm eine von Irma Rauš gespielte Krankenschwester zur Hand geht; ihre charakteristische Augenpartie ist in einigen wenigen Augenblicken zu sehen (in den Credits wird dieses Cameo indessen nicht gewürdigt). Katok i skripka (1960), Tarkovskijs Diplomfilm, enthält bereits zahlreiche, wenn auch sekundäre Frauenfiguren: Im Film geht es grob gesagt um die Freundschaft zwischen einem siebenjährigen Jungen, der ganz vom Geigenspiel eingenommen ist, und einem Straßenarbeiter, der eine Straßenwalze bedient. Die unterschiedlichen Frauenfiguren treten ausschließlich in negativer Gestalt als Störfaktoren auf: Die Geigenlehrerin verbietet dem jungen Musikvirtuosen die Improvisation, eine Straßenarbeiterin lenkt ihren Kollegen mit ihren Avancen ab. Die Mutter des Jungen schließlich sabotiert diese Freundschaft zwischen Geist und Proletariat, indem sie ihrem Sohn verbietet, mit dem Straßenarbeiter ins Kino zu gehen. Der Trend der negativen, schwachen oder abwesenden Weiblichkeit, die sich in männliche Milieus hineindrängt, setzt sich dann in den ersten beiden historischen Spielfilmen der 1960er, Ivanovo detstvo und Andrej Rublev, fort, in denen alle Bausteine des Motivkomplexes in deutlich konturierter, aber negativer Gestalt erscheinen. Erst in den 1970ern bekommt Weiblichkeit bei Tarkovskij eine positive Dimension, wenngleich auch die tote Harey und die tote Mutter, die Kris Kelvin in Soljaris heimsuchen, abwesende, ambivalente Figuren sind. Die Ambivalenz von Störung, Abwesenheit, Zwist auf der einen und mütterlich-weiblicher Fürsorge auf der anderen Seite erreicht in Zerkalo ihre maximale Spannung, bevor sie mit der marienähnlichen Ehefrau und der christologisch kodierten Tochter in Stalker in Richtung Verklärung aufgelöst wird. In den in Westeuropa gedrehten Filmen der 1980er erscheinen endgültig zu Marien verklärte Figuren: in Nostalghia Gorčakovs Ehefrau Marija als russifizierte Wiedergängerin von Pieros Madonna del Parto, die als Erinnerung die Gegenwart des Protagonisten einnimmt; in Offret Alexanders isländische Haushälterin Maria als Abbild von Leonardos Madonna, die die (oder zumindest: Alexanders innere) Welt vor der Apokalypse rettet. In den westeuropäischen Filmen wird die vornehmlich negative Weiblichkeit in komplementäre Frauenfiguren ausgelagert, die Dolmetscherin Eugenia und Alexanders Ehefrau Adelaide, die aber dennoch eine gewisse Ambivalenz aufweisen und nicht zu Schablonen der frühen Filme verflachen. Tarkovskijs Frauengestalten werden im Laufe seiner künstlerischen Evolution stets komplexer; und je mehr sie an Dichte gewinnen, desto mehr verdichtet sich auch der Motivkomplex zu einer Einheit. Diese Tiefe erhalten sie durch die allmähliche Annäherung an Tarkovskijs Mutter, genauer: ihrer fiktionalisierten Darstellung in Zerkalo, dem vierten Film und damit der Zentralachse der Heptalogie. Die (fiktionalisierte) Marija Višnjakova bildet das Paradigma von Weiblichkeit und Mutterschaft, die zwischen den biblischen Archetypen der Maria und Eva changieren. Diese ambivalente Frauen- und Mutterschaft zeigt sich einerseits als bedrohliche Allgegenwart: die Mütter lassen ihre Söhne nicht los. Auf der anderen Seite ist die Mutter-(Ehe)Frau ein entfremdetes, abwesendes und verlorenes Ideal, auf das sich die Sehnsucht des Protagonisten richtet. Letzteres zeigt sich darin, dass diese Gestalt über eine erinnerte Vergangenheitsebene eingeführt wird (mit Ausnahme von Offret). Parallel zur Komplexitätszunahme der Frauengestalten gewinnen auch die männlichen Hauptfiguren, die auf unterschiedliche Weise den Regisseur widerspiegeln, an Tiefe: Sind der kleine Geigenspieler, der Späher Ivan und der Ikonenmaler Rublev schon von Anfang an ideale Gestalten, deren Lebensweg auf unterschiedliche Weise durch Schicksalswendungen und Schläge deformiert wird, erscheinen die Figuren ab Kris Kelvin bis Alexander als deutlich selbstkritischer, widersprüchlicher und komplexer. Die ‚Emanzipation‘ der Frauenfiguren zieht auch die Emanzipation der männlichen Protagonisten nach sich.
Wie lässt sich das Motiv nun in seiner Gesamtheit lesen? Schon in jedem einzelnen Film bietet es ein breites Bedeutungsangebot, das sich im Dialog mit den anderen Filmen zu einer schier unerschöpflichen Bedeutungsüberfülle ausweitet. Zur Deutung des Motivkomplexes in seiner Wandelbarkeit und Mehrdeutigkeit scheint also eine Perspektive geboten, die von konkreten Einzelbedeutungen abstrahiert und die Bedeutungsproduktion selbst in den Blick nimmt. Die Frage lautet also nicht: ‚Welche Bedeutungen hat das Motiv?‘, sondern vielmehr: ‚Wie erzeugt es diese Bedeutungsfülle?‘ Eine solche Zugangsweise bietet die Betrachtung des Motivzusammenhanges als autoreferenzielles und metapoetisches Gefüge. Damit erweitert sich der Fokus von der Betrachtung der Filme an sich auf die Ebenen ihrer Rezeption und Produktion.
Von der Warte der Rezeption aus besehen bildet der Motivkomplex, der sich um die Frauenfiguren formiert, das Verhältnis der Zuschauer:innen zum Film innerfiktional ab: Zuschauer:innen blicken auf das vieldeutige Leinwandgeschehen so wie Tarkovskijs männliche Protagonisten auf die vieldeutigen Frauengestalten, die gleichsam als Mise en abyme des gesamten Films erscheinen. Komplementär dazu lässt sich der Motivkomplex auch als eine Allegorie seiner Produktion lesen, die bei Tarkovskij im Zeichen der Geburt steht. Die Geburt ist ein zentrales „Paradigma für Kunstschaffen“ (Hansen-Löve 2019: 33), das in der Genieästhetik seine größte Konjunktur erlebt und bis heute nachwirkt. Die weibliche Befähigung zur Geburt und also zur Lebensschöpfung wird zu einer Allegorie des männlichen Kunstschöpfens sublimiert. Die diesseitsbezogene, weibliche Körpergeburt eines vergänglichen Einzellebens dient als Blaupause der männlichen Kopfgeburt von Symbolwelten, die das Genie aus sich selbst für die Ewigkeit hervorbringt. Das Ideal der genialischen Schöpfung ist damit genau genommen die Jungfrauengeburt.84 Das Genie empfängt die Inspiration für das Kunstwerk auf die gleiche Weise wie die Gottesmutter den Gottessohn. Das Bild der Maria mit Kind wiederholt sich in jedem der sieben Filme: In Ivan, Nostalghia und Offret in Gestalt bildkünstlerischer Werke mit nämlichem Motiv; in Stalker in der Nachahmung der Heiligen Familie in der Figurenkonstellation; in Offret und Stalker ferner durch die Nachahmung der Eleusa bzw. Pietà in der Bildkomposition. In Soljaris und Zerkalo wird die Gottesmutterschaft nicht unmittelbar evoziert, sondern durch den starken autobiografischen Index in Tarkovskijs eigener Familienkonstellation vermittelt. Nirgendwo bei Tarkovskij zeigt sich diese Vorstellung jedoch so deutlich wie in der Schlussszene von Andrej Rublev, mit der auch der Parcours dieser Analyse schließt: Der ältere Stellvertreter Tarkovskijs, Andrej, hält dessen jüngeren Stellvertreter, Boriska bzw. Ivan, in den Armen wie Maria Christus. Es ist ein Bild der Autopoiesis, der Selbstschöpfung durch künstlerische Kreation. Die Metapher der Geburt korrespondiert mit der Tendenz zur Androgynie, die sich bei Tarkovskijs Protagonisten in unterschiedlichem Ausmaß zeigt, die wie ihr Erschaffer und Vorbild von hypermaskulinen Rollenbildern etwa des sowjetischen Entstehungskontextes weit entfernt sind (anschaulich wird diese Tendenz in der Verwandlung des Strugackij’schen Grobian-Stalkers zum sanften Zonenästheten im Film).
Andrej Tarkovskijs Gesamtwerk steht im Spannungsfeld zwischen Konservatismus und Innovation: Auf der einen Seite erzeugt es ein traditionelles, beinahe reaktionäres Künstlerbild, das sich in den männlichen Protagonisten spiegelt; auf der anderen zeichnet es sich durch experimentelle wie eigentümliche Film- und Erzählverfahren aus. Diese Spannung bildet sich auch im Motivkomplex ab, insofern die Frauengestalten einerseits als Allegorien unterschiedlicher Bedeutungszusammenhänge und schließlich der Filmkunstwerke selbst werden. In ihrem Bezug zur Gottesmutter verweisen sie metapoetisch auf die Filmproduktion, die in der unbefleckten Empfängnis ihren Bildspender findet. Zu dieser vereindeutigenden Vereinnahmung gegenläufig verhält sich ihre unkontrollierbare Ambivalenz: Sie erscheinen als Sinnbilder der Mehrdeutigkeit, die sowohl die männlichen Protagonisten als Stellvertreter sowohl Tarkovskijs als auch der Rezipient:innen immer wieder abschließend zu deuten versuchen und daran immer wieder produktiv scheitern.
Valentin Peschanskyi
Universität Münster
valentin.peschanskyi@uni-muenster.de
Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildete das Seminar „Andrej Tarkovskijs Filme und ihre Entstehungskontexte“, das ich im Sommersemester 2024 an der Universität Münster durchgeführt habe. Ohne die intensiven und anregenden Diskussionen mit der zwar kleinen, dafür aber höchst engagierten und interessierten Gruppe von Filmbegeisterten wären mir die grundlegenden Überlegungen und argumentativen Weichenstellungen nicht in den Sinn gekommen. Für die vielen Gespräche und Inspirationen danke ich Jonas Kertelge, Christin Helmes, Thomas Moje und Kilian Nitzschke.
Ich danke den Mitarbeiter:innen und Studierenden des Slavischen Seminars der Universität Tübingen sowie dem NRW-Slavistik-Kolloquium für die Gelegenheit, Teile der Untersuchung in einem größeren Rahmen vorzustellen und zu diskutieren.
Für die aufmerksame Lektüre und die wertvollen Anmerkungen danke ich Daniela Amodio, Michael Hagemeister, Thomas Moje, Patrik Valouch und den Herausgeber:innen von Apparatus.
Die Veröffentlichung dieser Arbeit wurde durch den Open-Access-Publikationsfonds der Universität Münster unterstützt.
1 In der Forschungsliteratur wird Tarkovskijs Mutter auf unterschiedliche Weise aufgeführt: als Marija Tarkovskaja, als Tarkovskaja-Višnjakova oder, seltener, als Višnjakova. Ich habe mich zur besseren Les- und Erkennbarkeit für die letztere Variante entschieden.
2 Eine biografische Lesart, die Film- auf Lebensepisoden zurückführt, legt Marina Tarkovskaja (2016) vor, die Schwester des Regisseurs. Neben einigen interessanten Details finden sich hier einige eines wissenschaftlichen Sammelbandes unwürdige Bemerkungen über Larisa Tarkovskaja (2016: 47–48). Selbst Vida Johnson und Graham Petrie, die sich in ihrer Studie einleitend gegen biografisch-hagiografische Lesarten aussprechen, erlauben sich mitunter Biografismen (1994: xiii–xv, 242–249).
3 Aufgrund der komplexen Veröffentlichungsgeschichte von Andrej Rublev gibt es mehrere Erscheinungsdaten und mehrere Versionen des Films (s. Schwarz 2015). In meinen Ausführungen beziehe ich mich auf den heute gängigen ‚final cut‘ von 183 Minuten Länge.
4 Ursprünglich geplant war der Film, der schlussendlich unter dem Titel Zerkalo veröffentlicht wurde, als ein dokumentarisch-autobiografisches Projekt, in dessen Zentrum Interviews von Tarkovskij und seiner Mutter standen (vgl. Tarkowskij 1993: 7–90). Zwar gab Tarkovskij dieses Vorhaben auf, die (auto)biografische Kernidee blieb aber erhalten. Zunächst wollte Tarkovskij sein fiktionales Pendant, Aleksej, selbst verkörpern, drehte aber letzten Endes die entsprechenden Szenen aus der Egoperspektive. Dank dieser Lösung ist die Hauptfigur Aleksej einerseits recht unzweideutig als ein Alter Ego Tarkovskijs erkennbar, trägt aber andererseits auch einen universellen Charakter.
5 Im Film heißt sie allerdings nicht Marija Ivanovna, sondern Marija Nikolaevna.
6 Oleg Jankovskij übernahm einige Jahre später in Nostalghia die Rolle des Exilanten Andrej Gorčakov, eines weiteren Platzhalters des exilierten Andrej Tarkovskij. Gegen Ende des Films deklamiert er – auch als intertextuelle Spiegelung von Zerkalo – Arsenij Tarkovskijs Lyrik.
7 S. zu dieser Rollenverteilung ausführlich Alice Gavin (2007), die den Film durch das naheliegende Prisma des Lacan’schen Spiegelstadiums erfasst. Zu den verwendeten Gedichten Arsenij Tarkovskijs und ihrer Verbindung zum Film s. Alexandra Smith (2004) sowie Robert Bird (2008: 142–145).
8 Der Titel von Lems Roman wird in seiner polnischen Schreibweise als Solaris wiedergegeben, für Tarkovskijs Film hingegen die Transliteration des russischen Titels Soljaris verwendet.
9 „Wir wollen gar nicht den Kosmos erobern, wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. […] Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel.“ (Lem 2008: 101, „Wcale nie chcemy zdobywać kosmosu, chcemy tylko rozszerzyć Ziemię do jego granic. […] Nie szukamy nikogo oprócz ludzi. Nie potrzeba nam innych światów. Potrzeba nam luster“, Lem 1995: 87) – so der Wissenschaftler Snaut in einem der zentralen Monologe sowohl des Romans als auch des Films.
10 Ursprünglich sollte, so Marina Tarkovskaja (2016: 44), Irma Rauš diese Rolle übernehmen, die aber schlussendlich an Natalija Bondarčuk ging.
11 In gleicher Weise scheitern auch die Rezipient:innen als Solarist:innen zweiter Stufe (Csicsery-Ronay 1985: 12) an der Enträtselung des Solaris-Mysteriums: Sie können Roman wie Film ebenso wenig auf einen Sinn festnageln wie seine Protagonisten den rätselhaften Nebelplaneten.
12 Auch Edward Balczeran (1975: insb. 155) macht auf diese Teilung aufmerksam, wenngleich er sie in einen anderen Rahmen stellt.
13 Über diese ‚Erdung‘ schreibt auch Nariman Skakov (2012: 75–84) ausführlich.
14 In einer früheren Fassung wollte Tarkovskij eine weitere Figur in die irdische Handlung einfügen: Kris’ neue Ehefrau Marija, zu der er am Ende auch zurückkehren würde (Graham/Petrie 1994: 100). Obschon Tarkovskij das Vorhaben auch aufgrund von Lems Widerspruch nicht verwirklicht hat, bleibt diese Marienspur zumindest auf diese Weise präsent.
15 Kris’ Vater ist auch in der Romanvorlage präsent, wenngleich auf gänzlich andere Weise als in Tarkovskijs ‚russifizierter‘ Version, in der er auf sehr sanftmütige Weise von Mykola Gryn’ko verkörpert wird.
16 Dasselbe Verfahren nutzt Tarkovskij später in den Erinnerungssequenzen von Nostalghia.
17 Nariman Skakov (2012: 84) metaphorisiert die Statik der Aufnahmen als „still lifes“, in denen die komplementären Frauengestalten als Teile der Landschaft erscheinen.
18 Die Übergänge von schwarzweißen zu Farbaufnahmen dienen eingangs zur klaren Unterscheidung von innerfilmischer Wirklichkeit und bildlicher Repräsentation: Die Wirklichkeit erscheint in Farbe, Videoaufnahmen in Schwarzweiß. Diese Unterscheidung wird in dem Moment infrage gestellt, in dem Kris kurz nach Ankunft auf der Raumstation Gibrarians Video-Testament ansieht. Dieser Verunsicherung greift auch auf die Zuschauer:innen über: Auch sie können fortan nicht mehr mit Sicherheit bestimmen, was real und was imaginär ist.
19 Insbesondere fokussiert sie das Gemälde Die Jäger im Schnee (1565, Jagers in de Sneeuw), das wie die Ikonen im Schlussteil von Andrej Rublev ihrem Blick folgend in einer Abfolge von Nahaufnahmen gezeigt wird. Die Komposition einer anderen Episode von Zerkalo, die eine Kindheitserinnerung Aleksejs zeigt, ist wiederum nach Bruegels Jägern modelliert.
20 Diese Bildkomposition orientiert sich an einer Fotografie von Marija Višnjakova aus dem Jahr 1932, aufgenommen von Lev Gornung – Fotograf, Schriftsteller, Freund der Familie und Patenonkel Andrej Tarkovskijs. In minderer Qualität ist sie zu sehen in Marina Tarkovskajas Artikel „Ja mogu govorit’…“ (Isskustvo kino 1989, Nr. 4) sowie in Aleksandr Gordons „Vospominanija ob Andree Tarkovskom“ (Isskustvo kino 2001, Nr. 3).
21 Das Fotoporträt, das von Lev Gornung aufgenommen wurde (s. Anm. 20), scheint gleich an zwei Stellen zu hängen: Einmal sehen wir es am Rand des Kaders gleich in der ersten Szene, die in der Gegenwart spielt, an einer Zimmerwand hängen. Das zweite Mal erscheint es schon seinem symbolischen Stellenwert entsprechend größer neben der Eingangstür der Wohnung, wo es hinter Aleksejs Sohn und Wiedergänger Ignat eine beunruhigende Präsenz entfaltet.
22 Bezeichnenderweise schließt unmittelbar an diesen Disput die Rauch-Szene in der Bibliothek an, in der sich Tarkovskijs rauchende Mutter aus Zerkalo spiegelt.
23 Zwischen Soljaris und Zerkalo gibt es zahlreiche weitere Berührungspunkte: Die Schwerelosigkeitsepisode in der Bibliothek der Raumstation wiederholt sich in variierter Form in Zerkalo (und später in Offret). Tamara Ogorodnikova, die in Soljaris Kris’ Tante Anna verkörpert, deren Plot-Funktion nicht ersichtlich ist, erscheint in Zerkalo als eine mysteriöse Gestalt mit uneindeutigem Realitätsstatus.
24 Im Prolog entsteht eine analoge Verschachtelung: Hier schaut sich Kris die Videoaufzeichnung der Befragung des Piloten Berton an, in dessen Verlauf wiederum dessen Aufnahme von Solaris gezeigt wird – ein Film im Film im Film. Während Berton vor der Kommission behauptet, Ungeheuerliches gesehen zu haben, sind auf dem Video nur Aufnahmen von Wolken zu sehen. Laut Robert Bird (2008: 119) ist es eine autoreflexive Geste, mit der Tarkovskij ironisch auf die immer wieder formulierten Vorwürfe reagiert, seine minutenlangen Aufnahmen von Naturoberflächen hätten keinen Mehrwert. Seine implizite Antwort lautet, dass diese sich stets in Bewegung befindlichen Oberflächen in gleicher Weise Fantasiegeneratoren seien wie der Solarisnebel.
25 Dieser erzählte Tag lässt sich grob mit der Handlung des vierten und letzten Romanteils vergleichen.
26 Eine ausführliche Gegenüberstellung, die aber andere Schwerpunkte setzt, nimmt Norbert Franz (2009) vor.
27 Im Roman existieren auf der Erde sechs solcher Zonen. Neben der naheliegenden Evokation des sowjetischen Lager- und Gefängnissystems steht die breite Metapher der Zone auch für Schauplätze von Naturkatastrophen, Erholungsorte für Eliten, das Ausland, Bereiche von Meteoriteneinschlägen (s. Žižek 2000: 238). Im weitesten Sinne ist die Zone eine Allegorie der gesamten Sowjetunion. Greift man ein wenig abstrakter, so ist sie wie Solaris ein metaphysischer Test der Psyche angesichts des verräumlichten Ungreifbaren, ein Raum der Krise, Selbstsuche und Selbstreflexion. Oder noch einmal anders: Sie ist eine Metapher des Lebens selbst, eine Reise durch ein oft unverständliches, gefährliches Gebiet, in dem der Zufall herrscht. Als Wunscherfüller ist sie ein (strafender) Gott, zugleich verheißt sie durch die Auslöschung des Technischen ein Naturparadies (das paradoxerweise mithilfe der Fantasie und den Mitteln der Filmtechnik erzeugt wird).
28 Innerhalb der Zonenhandlung gibt es drei Ereignisse, die das Übernatürliche streifen: (1) Zu Beginn der Exkursion löst sich der Schriftsteller gegen die Weisung des Stalkers von der Gruppe und hört plötzlich eine Stimme, die ihn zurückruft. Zwar behaupten der Wissenschaftler und der Stalker, der Ruf sei nicht von ihnen gekommen, die Situation bleibt aber ambivalent. (2) Gegen Ende der Handlung fliegt ein Raubvogel durch den Raum mit den Sandhügeln und verschwindet plötzlich. Dieses Verschwinden, das die Figuren selbst nicht kommentieren, wird durch einen Effekt erzeugt, der dermaßen amateurhaft ist, dass er kaum anders als ein selbstreferentieller Fiktionsbruch ausgelegt werden kann. (3) In einer der verlassenen Fabrikhallen findet das Trio eine funktionierende Lampe vor und ein Telefon, das unvermittelt klingelt. Zwar erscheinen die funktionstüchtigen Gegenstände innerhalb des allgegenwärtigen Zerfalls in der Zone deplatziert, sie sind aber nicht im engeren Sinne übernatürlich.
29 In beiden Filmen werden drei männliche Archetypen mit dem Unerklärlichen als Gefahr, Anziehungspunkt und Inspirationsquelle konfrontiert, das sich in einer ausladenden Landschaft materialisiert, die zur Projektionsfläche von Sinnzuschreibungen wird. Ist es in Soljaris der Nebel als opakes Medium und Metapher des Films, ist es in Stalker das allgegenwärtige Wasser (Bird 2008: 167). Die in Soljaris auch visuell realisierte Vernebelung verlagert sich in Stalker auf filmische Mittel, auf innerfiktionale Rahmen und andere Sichteinschränkungen, die zudem von Rauch, Schatten und Dunkelheit intensiviert werden. Die Verbergung und Verstellung des ‚Wesentlichen‘ ist für beide Verfilmungen programmatisch. Bemerkenswert ist schließlich auch, dass Tarkovskij beide SciFi-Vorlagen russifiziert bzw. sowjetisiert, im Falle von Soljaris durch die oben beschriebenen Szenen auf der Erde, im Fall von Stalker durch die Russifizierung der Figuren und der Umgebung, die gewiss nicht zufällig an gänzlich andere ‚Zonen‘ erinnert (s. Anm. 27).
30 In Piknik wird an zentraler Stelle der letzte Satz von Lems Solaris zitiert: Die außerirdischen Besucher, so Valentin Pil’man, würden die Menschen in den Zonen „auf die grausamen Wunder des Künftigen“ vorbereiten (Strugatzki 2021: 197, „Пришельцы угнездились в Зонах […] подготавливая к ‚жестоким чудесам грядущего‘“, Strugackij 2024: 177). Bei Lem schließt Kris mit der Gewissheit, „że nie minął czas okrutnych cudów“ (Lem 1995: 242, „die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um“, Lem 2008: 270).
31 S. zu diesen drei Weltzugängen auch Norbert Franz (2009: 110–111), der die hierin gründende These Hartmut Böhmes diskutiert.
32 Der Prolog enthält noch eine kurze Szene, in der der Schriftsteller mit einer jungen Frau flirtet, die sogleich unwirsch vom Stalker weggeschickt wird. Die Szene erfüllt zweierlei Funktion: Sie charakterisiert erstens den Schriftsteller als jemanden, der die Zone nicht ernst nimmt, und zweitens die Zone selbst als einen frauenfreien Raum.
33 Demgegenüber ist die Wundertätigkeit der Zone bei den Strugackijs in zahlreichen Erscheinungen, Objekten und Figuren allgegenwärtig. Die Allegorisierung der Zone in Martyška ist eine von vielen und daher nebensächlich.
34 Diese Schlussszene des Epilogs schlägt eine Brücke zur Anfangsszene des Prologs, in der sich ein Glas gleichsam wie von selbst über einen Tisch bewegt. Im Prolog scheint ein vorbeifahrender Zug die Bewegung auszulösen, der Epilog vermehrdeutigt diese physikalische Erklärung in Richtung des Fantastischen.
35 Neben der ikonischen Dornenkrone ist die einzige explizite visuelle Referenz ein Flügel von Jan van Eycks Genter Altar (1432) mit der Darstellung Johannes des Täufers, der in einer Art Kanal zwischen allerlei Abfall liegt (s. hierzu Franz 2009: 120). Im Gefüge des Altars gehört die Darstellung des Johannes zum oberen Mittelteil der Festtagsseite. Kompositorisch wird sie von einer Mariendarstellung gespiegelt, die in Stalker dergestalt mit aufgerufen wird. Zu den Bibelzitaten in Stalker s. Norbert Franz (2009: 116–117).
36 Die beiden ‚Wunder‘ am Schluss wiederholen den Epilog von Andrej Rublev, wo nach etwa drei Stunden krisenbehafteten Handlung in Schwarzweiß erstmals Ikonen in ihrer Farbpracht erscheinen. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Bruch der vierten Wand in Stalker mit der Funktionsweise einer Ikone vergleichen: In sepiafarbenes Licht getaucht, das an den Goldgrund der orthodoxen Ikone erinnert, tritt die marienähnliche Mutterfigur, indem sie sich direkt an die Zuschauenden wendet, aus dem Bereich bloßer Repräsentation heraus und in eine Sphäre unmittelbarer Präsenz.
37 Zwischen dem Ausgangspunkt der drei Zonentouristen und ihrem Ziel, dem Raum, der Wünsche erfüllt, liegen nur wenige Meter Luftlinie.
38 Diese Zerreißprobe drückt sich, so Norbert Franz (2015: 98), in dem hybriden Filmtitel Nostalghia aus, der das italienische nostalgia mit dem russischen nostal’gija verbindet, so an beiden Sprachen und Kulturen teilnimmt und zugleich „Fremdkörper“ bleibt. Gorčakovs „Unbehaustheit“ zeige sich auch darin, dass dieser „[s]tändig angezogen“ und also „immer reisefertig bleibt“ (Franz 2015: 106)
39 James Macgillivray (2002: 82–83) stellt die These auf, dass Sosnovskij als eine Art Mise en abyme in gleicher Weise Gorčakov abbildet wie letzterer Tarkovskij. Norbert Franz (2015: 107) stellt das chiastische Verhältnis der Figuren heraus: „der in Italien geschulte Musiker Sosnovskij begeht in Russland Selbstmord, der in Italien recherchierende Dichter Gorčakov stirbt in Italien am Herzinfarkt“.
40 Hinweise auf Selbstaussagen Tarkovskijs, in denen er Gorčakov als Alter Ego bestimmt, finden sich bei Vida Johnson und Graham Petrie (1994: 159–160).
41 Eva Binder schreibt in ihrem hervorragenden Aufsatz ausführlich über die Hintergründe und die Entstehung von Tempo di viaggio. Weniger gelungen ist ihr kurzer Vergleich mit Nostalghia. Sie beseitigt die Ambiguitäten und Widersprüche beider Filme, um die Doku als „Negativ zum entwickelten Positiv“ des Spielfilms lesen zu können (Binder 2016: 100). Die Lesart ist in dieser Eindeutigkeit jedoch nicht haltbar. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist, dass Tarkovskij in einem seiner längeren Monologe über das Filmschaffen, die er in Tempo di viaggio hält, von zwei nicht realisierten Szenarien erzählt: In einem steht eine Ehefrau im Vordergrund, die von ihrem Mann aufgrund ihrer Neigung zu harmlosen Lügen verbrannt wird; im anderen sucht ein Mann das Grab seiner Mutter, um einen Grabstein darauf zu setzen.
42 Darauf, dass Marija für Gorčakov primär eine Allegorie ist, die über die konkrete Person hinausgeht, deutet Eugenias Anmerkung hin, er habe schon seit zwei Tagen nicht mehr mit seiner Frau telefoniert. Die melancholiedurchtränkten Erinnerungen erwecken den Eindruck, als habe er sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie lange Gorčakov sich bereits in Italien befindet und weshalb er nicht zurückkehrt (oder zurückkehren kann), erklärt der Film nicht. Einzig ein Brief des exilierten Komponisten Sosnovskij, mit dem sich Gorčakov von Eugenia verabschiedet, enthält einen konkreten Zeitraum, nämlich zwei Jahre. Ob dies auch auf Gorčakov zutrifft, bleibt allerdings offen.
43 Fälschlicherweise, so Ronald Lightbown (1993: 187), wurde und wird immer wieder behauptet, Piero sei durch den Tod seiner Mutter zum Malen des Freskos inspiriert worden – ein Entstehungsmythos, der für Tarkovksij hätte bedeutsam sein können.
44 Der ursprüngliche Ort des Freskos war die Cappella di Santa Maria di Momentana im toskanischen Monterchi, wo es seit 1992 in einem eigens eingerichteten Museum ausgestellt wird. In seiner beeindruckenden Studie zeigt James Macgillivray (2002) auf, wie Tarkovskij das Fresko gleichsam zweifach ent- bzw. verfremdete: Die Filmszenen vor dem Werk, genauer: dessen Reproduktion, entstanden in der Krypta der Kirche San Pietro in Tuscania (Latium), in der Tarkovskij das Fresko auf eine Weise architektonisch einfassen konnte, wie sie ursprünglich von Piero angedacht war. Den Raum der Krypta erweiterte Tarkovskij im Film durch eine geschickte Montage um eine Apsis. Die kurze Außenaufnahme zu Beginn der Episode zeigt im Übrigen weder die Kapelle noch die Kirche, sondern wiederum ein anderes Gebäude. Die für Tarkovskij wesentliche Dialektik von Simulakrum und verlorenem Original erreicht hier einen ihrer Höhepunkte.
45 Die Erinnerungen bzw. Träume scheinen recht lose durch eine Erzählung verbunden zu sein: In der ersten Sequenz in der Kapelle erscheint Gorčakov sein russisches Zuhause, in das er – wohl durch die in der Gegenwart umherschwebenden Federn inspiriert – einen Engel eintreten sieht. In der zweiten längeren Traumsequenz ist seine Ehefrau schwanger, sodass die erste Sequenz nachträglich als eine Verkündigungsszene erscheint. In der dritten Sequenz steht Marija schon mit Sohn und Tochter auf einer Weide. Wie schon im Falle von Stalker wird so auch in Nostalghia eine christologische Dimension eingeführt. Die assoziative und symbolreiche Traum- und Erinnerungsarbeit erinnert hingegen an Kris Kelvins Fiebervisionen in Soljaris.
46 Dieser Stillstand wird auch immer wieder in den stummen Erinnerungssequenzen selbst aufgegriffen, die aus der filmischen Bewegung heraus zu fotografischen Standbildern gerinnen.
47 Ein naheliegendes konkretes Vorbild könnte Pieros Fresko in der Kathedrale von Arezzo sein, auf dem Maria Magdalena (um 1460) wie eine Zwillingsschwester der Madonna del Parto aussieht. Beide Fresken sind etwa zur selben Zeit entstanden und befanden sich etwa 25 Kilometer voneinander entfernt. Tarkovskij wird das Fresko auf seiner Reise, die er in Tempo di viaggio dokumentiert, gesehen haben. Dafür spricht auch, dass Eugenias freigelegte linke Brust in der ‚Verführungsszene‘ mit dem Fresko korrespondiert, auf dem Maria Magdalenas verrutschter Umhang den Umriss ihrer linken Brust freigibt.
48 In diesen Bedeutungen ist das Wasser, so Robert Bird (2008: 22–23) auch eine autoreferentielle Metapher des Mediums Film, das das Vergängliche verewigt, es zur Anschauung bringt, zugleich aber auch medial verzerrt.
49 Bei der Ruine handelt es sich um San Vittorino in Cittaducale (Latium).
50 „[E]rst der Tod“, so Norbert Franz (2015: 106), ermöglicht die ersehnte „Eins-Werdung von Russland und Italien“. Slavoj Žižek (2000: 234–235) macht darauf aufmerksam, dass diese unmögliche Projektion von Gorčakovs allerinnersten Sehnsucht nach dem Eigenen, das sich in der Datscha materialisiert, mit dem Fremden, eine Kopie der Schlussszene von Soljaris ist, in der Kris’ sein Elternhaus in der Nebelmasse auferstehen lässt.
51 In dieser Hinsicht variiert Nostalghia die Struktur von Soljaris, die sich zyklisch zwischen zwei Szenen vor dem elterlichen Haus Kris Kelvins aufspannt, wobei die erste Szene aber in der Wirklichkeit stattfindet, die zweite bloß eine vom Solarisnebel erzeugte Projektion von Kris ist.
52 Gorčakov und sein Doppelgänger Domenico, gleichsam ein Zukunfts-Ich Gorčakovs, scheitern am Leben, weil sie sich immer nur einem Extrem zuwenden: Beim Versuch, die Endlichkeit des Lebens zu verdrängen, die in der Apokalypse ihren äußersten Ausdruck findet, sperrt Domenico seine Familie für mehrere Jahre in seinem Haus ein. Als er sich schlussendlich der Gegenwart und damit der Zukunft stellt, verbrennt er sich selbst. Diesen Prozess ahmt Gorčakov in der symbolträchtigen vorletzten Szene im Schnelldurchgang nach: Er versucht eine brennende Kerze von einem Rand des historischen Bades in Bagno Vignoni zum anderen zu befördern, ohne dass die Flamme erlischt. In der Metaphorik des Films lässt sich dies so auslegen, dass er sich erstmals von der Vergangenheit löst, die im Wasser symbolisiert wird, und sich dem gegenwärtigen Moment zuwendet. Domenicos buchstäbliche Selbstverbrennung symbolisch nachahmend, bricht er, als er am Ziel angekommen ist, zusammen und stirbt. Diese Doppelgängerei arbeitet Norbert Franz (2015: 110–112, 115, 120) auch anhand anderer Aspekte heraus.
53 Auch in Offret wird der Bildcharakter des idyllischen Settings mehrfach problematisiert. In einer Episode findet Alexander vor seinem idyllischen Haus dessen exakte Miniatur. Wie schon in Soljaris und Nostalghia wird durch die Kopie nicht nur die Authentizität des Originals, sondern ganz grundsätzlich dessen Möglichkeit infrage gestellt.
54 Alexander hält sich eine Pistole an die Schläfe, woraufhin Maria seinen Avancen oder besser: seinem Leiden nachgibt.
55 Ab dieser Szene laufen beide Lesarten zusammen.
56 Diese Lesart schlägt auch Gabriel Giralt (2005: 73) vor, der sich seinerseits auf die ausführliche Leonardo-Studie von Giancarlo Maiorino (1992) stützt. Maiorinos (1992: 53–70) Ausführungen zu dem Gemälde kreisen um die maßgebliche Spannung von Bildhinter- und Bildvordergrund. Elena Dulgheru (2016: 202) weist darauf hin, dass die Komposition einen Konventionsbruch darstellt, insofern das Sujet der Anbetung üblicherweise frei ist von Gewalt und Disharmonie.
57 Zur Vertiefung dieser erzählerischen Auslegung des Gemäldes durch den Film siehe die Studie von Gabriel Giralt (2005). Speziell zur Gegenüberstellung der Bäume s. Giralt 2005: 77.
58 In Alexanders Haus gibt es keine christlichen Symbole. Auch verneint er die Gretchenfrage, die ihm Otto gleich in der ersten Sequenz des Films stellt. Alexanders Gottesanrufung scheint also eher Element eines Privatglaubens zu sein, der zwar Merkmale des Christentums trägt, aber nicht in der Religion im eigentlichen Sinne wurzelt.
59 Otto bezeichnet sie gar als Hexe, wenn auch nicht unbedingt im pejorativen Sinne – eine Anspielung auf die ursprüngliche Drehbuchidee, die die Strugackijs für Tarkovskij unter dem Titel Ved’ma / Die Hexe (1981) ausgeführt haben.
60 Zwischen Kris’ ‘Begegnung’ mit seiner Mutter und Alexanders Besuch bei Maria lassen sich zahlreiche weitere Parallelen ziehen.
61 Auch in Soljaris gibt es eine erotisch konnotierte Levitationsszene in der Bibliothek der Raumstation.
62 In dieser Figurenkonstellation klingt die Gegenüberstellung von Maria und Eugenia in Nostalghia nach mit dem Unterschied, dass Alexander mit der ‚falschen‘, weil theatralischen Frau verheiratet ist, die er im Gegensatz zu Gorčakov mit dem marienähnlichen Ideal betrügt. Um als Personifikation der Reinheit und Transzendenz figurieren zu können, benötigt Mari(j)a in beiden Filmen eine Negativfolie, Eugenia resp. Adelaide.
63 Biografistisch gelesen geht diese Lesart nicht sauber auf: Vida Johnson und Graham Petrie (1994: 183) weisen darauf hin, dass Tarkovskij die Krebsdiagnose erst nach dem Dreh erhielt, sodass sie lediglich den Schnitt hätte beeinflussen können.
64 Bei Gabriel Giralt (2005: 81–82) finden sich weitere Deutungsmöglichkeiten dieser Episode.
65 Davon, dass Tarkovskij persönlich die Vorstellung des Fortlebens in der nächsten Generation nicht fremd war, zeugt der Umstand, dass er seinen eigenen Sohn nach sich benannte.
66 Die Familienmetaphorik ist schon bei Bogomolov deutlich ausgearbeitet: Gal’cev charakterisiert sich und seine Kameraden über das Alter und die (mütterliche) Zuneigung zu Ivan (vgl. Bogomolov 2013: 22, 66). Eine erzählerische Lakune bei Bogomolov nutzend ergänzt Tarkovskij diesen ‚Stammbaum‘ noch um einen alten Mann, dem Ivan in der Mitte des Films begegnet: In einer ebenso absurden wie herzzerreißenden Szene ‚richtet‘ der ältere Herr, der offenbar seinen Verstand verloren hat, sein bis auf den Ofen vollkommen zerstörtes Haus für die Rückkehr seiner Ehefrau wieder her, die laut seiner eigenen Aussage von den Nazis ermordet wurde. Der alte Mann, der deutlich älter als Grjaznov ist, vervollständigt die Mehrgenerationenfamilie der Frontmänner.
67 Der Name ist schon bei Bogomolov (2013: 39) angedeutet: Nachdem Cholin die im Text namenlose junge Frau sieht, wiederholt er mehrfach den Refrain des Volkslieds Nočka temnaja / Dunkles Nächtchen, in dem der Name Marusja, eine Kurzform von Marija, vorkommt. Um die Figur auszuarbeiten, modifizierte Tarkovskij zum einen schon bei Bogomolov vorhandene Episoden, in die er Maša hinzufügte. Zum anderen schrieb er eigene Szenen, in denen er die Gestalt in den Mittelpunkt stellte, so etwa die ikonische Episode im Birkenwald, in der Cholin um Maša wirbt.
68 Bei Bogomolov (2013: 68) blitzt zumindest in einem Absatz die Kindheitsidylle des Ich-Erzählers Gal’cev auf, in deren Zentrum seine Großmutter steht. Dieser Absatz könnte als Keim für die idyllischen Analepsen im Film gedient haben.
69 Der Film enthält insgesamt vier Vergangenheitssequenzen. Die in ihnen entworfene Idylle wird sowohl inhaltlich als auch kinematografisch gebrochen und so als Traumkonstruktion entlarvt: In der ersten Sequenz beispielsweise, mit der der Film beginnt, erhebt sich Ivan vor Freude in die Luft und nimmt die Landschaft aus der Vogelperspektive wahr (kinematografischer Bruch), bevor er vor den Füßen seiner Mutter landet, die sogleich erschossen wird (inhaltlicher Bruch), woraufhin der Film zur Kriegsgegenwart wechselt; auf dieselbe Weise endet auch die zweite Sequenz. Auffällig ist zudem, dass die Erinnerungen an die Mutter – wie Vida Johnson und Graham Petrie (1994: 70) hervorheben – eng mit dem Element des Wassers verknüpft sind, eine Symbolik, die in Nostalghia in Gorčakovs Erinnerungen an seine Ehefrau noch intensiver ausgearbeitet wird.
70 Marina Tarkovskaja (2016: 43) merkt hierzu an, Tarkovskij habe die Gestalt nach ihrer Mutter modelliert.
71 Christoph Schmidt (2009: 114–116) verweist darauf, dass lediglich drei Episoden von Andrej Rublevs Lebensweg als wirklich gesichertes Wissen gelten können. „Jegliche Meinung, die über diese drei Bruchstücke hinausgeht, ist im Grunde Spekulation oder stützt sich auf weitaus spätere Überlieferungen.“ (Schmidt 2009: 116)
72 Richtiger wäre es, den titelgebenden Protagonisten als Andrej zu bezeichnen. Das aber würde immer wieder disambiguierende Ergänzungen erfordern, um die Figur von ihrem gleichnamigen Urheber zu unterscheiden, welcher eben diese Identifikation anzielt. Die ahistorische Bezeichnung des ikonenmalenden Mönchs als Rublev scheint mir gerade im Zusammenhang mit dem untersuchten Motivkomplex die elegantere Lösung.
73 Bei den nicht von Menschenhand geschaffenen Ikonen – den sogenannten Acheiropoieta (griech.) bzw. nerukotvornye (russ.) – handelt es sich zumeist um Darstellungen Christi, die auf einen originären Abdruck seines Antlitzes zurückgeführt werden, so etwa das Abgar-Bild in der orthodoxen Tradition oder das Schweißtuch von Veronika in der Westkirche.
74 In Teilen dieser Szene wird Marfa von einer anderen Schauspielerin verkörpert.
75 Natascha Drubek (2016: 168–171) erkennt hierin eine Analogie zu Jackson Pollocks Actionpainting, das in den späten 1950ern in Moskau bestaunt werden konnte.
76 Das romanhafte Drehbuch, das auch Auskunft über Rublevs Innenwelt gibt, ist noch expliziter: „Und plötzlich erinnert sich Andrej der weißblonden Haare der Hexe im Nebel, die über das schwarze Wasser strömten.“ (Tarkowskij 1991: 155). Philip Strick (1991: 15) schreibt in seinem einführenden Kommentar zur deutschen Übersetzung des ursprünglichen Drehbuchs: „Die fürsorgliche Duldung des schwachsinnigen Bauernmädchens, das ihn an die ‚Hexe‘ [Marfa] erinnert (die beiden Schauspielerinnen gleichen einander auffällig), ist Teil seines langen Kampfes gegen das Weltliche in ihm selbst“.
77 Während sich Natascha Drubek ausführlicher mit der orthodoxen Folie befasst, verweist sie bei dem Bezug auf die Pietà auf Michaela M. Kastinger-Haslingers an der Universität Wien angefertigte Diplomarbeit Der Film „Andrej Rublëv“ von Andrej Tarkovskij. Eine Reflexion unter Einbeziehung filmtheoretischer und -geschichtlicher Aspekte (1998). Unglücklicherweise lässt sich kein vernünftig gesicherter Link zu dieser Publikation anführen, die aber dennoch nicht unerwähnt bleiben soll.
78 In Ivanovo detstvo zieht Burljaev als Ivan in einer zentralen Szene eine (wesentlich kleinere) Glocke empor und antizipiert damit seine spätere Rolle in Andrej Rublev. Den Raum für diese Episode bietet eine Lakune bei Bogomolov (2013: 46). Eine Glocke wird in dessen Vorlage allerdings an keiner Stelle erwähnt.
79 Die Vision Rublevs korrespondiert mit einer früheren: Während er im Gespräch mit seinem Lehrer, Feofan Grek, einen Monolog über die Rus’ hält, zeigt der Film eine in die winterliche Rus’ transponierten Kreuzweg mit anschließender Kreuzigung Christi. Neben Maria Magdalena ist unter den Figuren auch die trauernde Muttergottes zu sehen. Diese Vision Mariens korrespondiert mit der Erscheinung der verklärten Gottesnärrin. Robert Bird (2008: 82, 2003) merkt an, dass die Golgotha-Vision sich nicht eindeutig Rublev zuordnen lässt und von dessen Schüler Foma stammen könnte.
80 Natascha Drubek (2016: 172) liest diesen Umschlag als Hierophanie.
81 Vida und Johnson (1994: 248) zeigen am Beispiel des Stalkers, dass sich die Protagonisten infantilisieren lassen. Ähnliche Konstellationen lassen sich in Soljaris und noch ausgeprägter in Offret beobachten.
82 Die Filmnovelle von Zerkalo trägt den Titel Belyj, belyj den’ (Weißer, weißer Tag) – eine Referenz auf Arsenij Tarkovskijs Gedicht „Belyj den’“ (1942), das von einem verlorenen Kindheitsparadies handelt.
83 Rublev muss in der Textvorlage keinen Mord begehen, um die Gottesnärrin zu retten. Stattdessen bringt sie das Kind eines Tataren zur Welt und wird dadurch ‚geheilt‘. Auch auf Rublev wirkt diese Geburt heilsam: Für ihn ist sie der erste Glücksmoment seit dem Tatareneinfall.
84 Ähnlich argumentiert James Macgillivray (2002: 97–98) besonders in Bezug auf die schwangere Madonna in Nostalghia und stützt sich dabei auch auf Tarkovskijs Selbstaussagen. Tarkovskijs Obsession mit Mutterschaft und speziell mit der Gottesmutterschaft resultiere daraus, dass er sie als Vorbild für männliche Schöpfung sehe.
Valentin Peschanskyi ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für Slavistik der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Literaturen, visuellen Medien und Kulturen Polens, Russlands und der Ukraine. Seine literaturtheoretischen Interessen gelten der Narratologie, Intertextualität und Intermedialität. Letzte Buchveröffentlichung: Die tote Frau als Ikone. Zur Verbindung von Tod, Weiblichkeit und (Heiligen-)Bild bei Fedor Dostoevskij, Vasilij Perov, Ivan Turgenev und Evgenij Bauėr (2024).
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